laut.de-Kritik
Das letzte Degenhardt-Album.
Review von Anastasia HartleibDieses Album ist kein Vandalismus-Album. Auch wenn Cover und Künstlername etwas anderes verlauten, dürfen sich Ohrenzeugen dieses Erzeugnisses davon nicht in die Irre führen lassen. "Lichtenberg Therapie" ist kein Vandalismus Album. Es ist ein Degenhardt-Album.
Wer jetzt glaubt, das längst begraben geglaubte Alter Ego des mittlerweile in Köln lebenden Rappers wäre wieder von den Toten auferstanden, irrt aber auch. Vielmehr klingt "Lichtenberg Therapie" wie eine Botschaft aus dem Jenseits. Eine Nachricht an die Hinterbliebenen, die übermittelt, dass die Überfahrt über den Jordan überstanden ist und man sich so langsam eingewöhnt, im Leben in der Ewigkeit. Oder wie Degenhardt es selbst sagt: "Mach dir keine Sorgen, es geht schon."
Hatten wir uns in den vergangenen Vandalismus-Veröffentlichungen daran gewöhnt, dass der Blick mehr über das Chaos der Welt schweift, so bekommen wir mit diesem überraschend kurzen Album erneut eine Nabelschau in voller Bandbreite, inklusive hautnahem, erbarmungslosem Seelen-Striptease. Das liegt allerdings auch in der Natur des Albums. "Lichtenberg Therapie" entstand nämlich, wie der Name es bereits andeutet, im Rahmen der Therapie, die dem Mensch hinter dem Künstler aus seinem Abgrund heraushilft.
"Im Sommer 2023 stand ein Wechsel der Behandlungsform an. Für den Übergang empfahlen mir sowohl meine alte als auch die neue Therapeutin eine selbstständige Analyse: Ich sollte resümieren welche Nebenschauplätze ich bisher vernachlässigt hatte", sagt der Künstler selbst dazu. Diese Analyse verselbständigte sich zu einem acht Songs beinhaltendem Album, in dem er familiäre Beziehungen und deren Konsequenzen verarbeitet.
Er behandelt die Beziehung zur eigenen Großmutter, deren Beschreibung als ambivalent eigentlich viel zu kurz greift. Es geht um generationelle Traumata, ungesunde Familienverbunde und das Katastrophen-Potenzial, das in Zuständen wohnt, in denen Kontrollverlust mit Verschwiegenheit und dem Anschein von 'Normalität' kaschiert werden soll. Auch spricht er in einem berührenden Text über den Verlust eines nicht gekannten Bruders.
"Lichtenberg Therapie" liegt weit entfernt von den selbstzerstörerischen Zügen, die auf früheren Degenhardt-Alben zu hören sind. Im Gegenteil, die Texte lassen vielmehr einen vorsichtig gefestigten Menschen hören, der seine ersten Schritte ohne Krücken aufs Pflaster setzt. Und dennoch sind die Zeilen der acht Songs etwas zu nah dran, um ein unbeteiligtes Hören für Außenstehende zu ermöglichen. Wer "Lichtenberg Therapie" hört, steckt gemeinsam mit dem Künstler mitten drin im Heilungsprozess.
Es ist irgendwie auch Balsam für das eigene Seelenheil, wenn man dem Künstler beim Genesen zuhören kann. Wenn man nach den Jahren im Schatten nun auch das Licht mit erblicken darf. Denn diese selbstschutzlose seelische Nacktheit ist Wohl oder Übel - und hier ist das ganz wörtlich gemeint - ein unabkömmlicher Teil davon, was Degenhardt für seine Fans zur Identifikationsfigur macht.
Aber gerade weil das Album als Teil einer Therapie entstanden ist, ist es eigentlich unmöglich, hier eine Bewertung abzugeben. Daher ist die neben dem Text stehende Punktevergabe mehr als notgedrungener Platzfüller zu verstehen. Therapie oder Heilung kann nicht von Außenstehenden bewertet werden. Punkt. Erfreuen wir uns also als Wegbegleitende einfach daran, ein Lebenszeichen aus der Ewigkeit erhalten zu haben. Ich bin nicht mehr da. Aber da wo ich bin ist es auch ganz schön. "Mach dir keine Sorgen. Es geht schon."
1 Kommentar mit einer Antwort
Man könnte sogar noch weiter gehen als die Review und sagen, dass es von Außenstehenden vielleicht gar nicht erst gehört werden sollte.
Degenhardt / Vandalismus hat eine der besten Diskografien im Deutschrap und ich freue mich über alles, was zu seiner Seligwerdung beiträgt, aber als Fan gibt es für mich keinen Grund das ein zweites Mal anzuhören. Das sind ja wirklich eher Therapiesitzungen über zugegebenermaßen sehr schöne Beats gesprochen. Die Wortgewalt, das kryptisch lyrisch, enigmatische, dass dieser Künstler eigentlich kann wie kein Zweiter fehlt fast komplett.
Ich sehe das anders. Erstmal hat dieses Album durchaus über weite Strecken, was du "das kryptisch lyrisch, enigmatische" nennst. Für mich ist das Impressionismus. Egal, ob er als Degenhardt von sich selbst oder als Vandalismus von der Welt erzählt (oder vice versa, was es ja durchaus auch gab), dann ist das immer seine Innensicht auf das Thema, emotional, assoziativ, wie es sich für ihn anfühlt.
Die Stellen, wo es dann kryptisch und sprachgewaltig wurde, sind meiner Interpretation nach stets Stellen gewesen, wo das beschriebene oder seine Gefühle dazu für ihn selbst noch rätselhaft waren. Oder wo er anderweitig verwirrt war, wenn mensch die Texte nimmt, in denen er drauf sein beschreibt. Dass es auf diesem Album dann stellenweise klarer und direkter ist verwundert dann kaum.
Und es ergänzt die Diskographie so schön: Weil es immer um ihn ging sind seine Alben die Geschichte seiner innerlichen Entwicklung. Vieles, wenn nicht alles, was er auf diesem Album erzählt, knüpft an andere Texte vorheriger Alben an. Wiederkehrende Personen, Motive und Themen werden auf diesem Album von einer klareren Perspektive betrachtet. Für Fans meiner Meinung nach im Zusammenspiel mit dem Rest der Diskographie schon mehrfach hörbar, sogar ein Grund dazu, die Diskographie nochmal durchzuhören und danach nochmal dieses hier einzuwerfen.
Für Außenstehende... hm, schwer zu sagen. Terror 22 war meiner Meinung nach ähnlich sperrig und abweisend, nur verklausulierter, und das hat mich damals reingezogen. Hier bekommt mensch auch als Außenstehender sehr eigenständige und schöne Beats und sehr ungewöhnliche Texte, die durchaus lyrisch noch auf einem anderen Level sind als szeneüblich.