laut.de-Kritik
Finnland, 12 Punkte.
Review von Eberhard DoblerErstmals seit der Premiere 1956 im schweizerischen Lugano kein Eurovision Song Contest: Natürlich fällt auch die 65. Ausgabe in Rotterdam der Corona-Pandemie zum Opfer. Die Songs aller teilnehmenden Länder flimmern stattdessen am 16. Mai in der von der EBU angesetzten Ersatzshow "Europe Shine A Light" in die Wohnzimmer Europas.
Deutsche Eurovision-Fans konnten schon zuvor online und via Telefon über ihre Favoriten abstimmen. Im Zusammenspiel mit dem Votum einer Eurovisionsjury kristallisierten sich so Island (der beliebteste Titel), Litauen, Schweiz, Italien, Russland, Bulgarien, Dänemark, Schweden, Aserbaidschan und Malta als Favoriten beziehungsweise als Teilnehmer des am Samstag vorgeschalteten deutschen ESC-Halbfinales heraus. Eine Auswahl, die man je nach Perspektive als stilistisch vielfältig oder völlig planlos bezeichnen darf.
So schiebt der aserbaidschanische Beitrag "Cleopatra" verquerst Elemente von Bauchtanzatmo bis Technostampf zusammen. "Tears Getting Sober" (Bulgarien) präsentiert sich hingegen als ernstzunehmender Orchester-Pop. Während die schweizerische, recht modern konzipierte Ballade "Répondez-Moi" überambitioniert wirkt, hätte jene Italiens schon von Al Bano & Romina Power stammen können ("Fai Rumore").
Die deutsche Begeisterung für den seichten litauischen Popdance "On Fire" erschließt sich ebenso wenig wie die für Maltas Popsängerin Destiny Chukunyere. Dass letztere erst 17 Jahre jung ist, hört man ihrer Stimme allerdings nicht an. Russland fährt dann Latino-Technopop mit Piepsstimme auf ("Uno"). Schwedens flockige Melodien ("Move") dokumentieren hingegen die große Erfahrung der Skandinavier, die den Wettbewerb zuletzt 2012 und 2015 gewannen.
Dass Island im deutschen Voting als Sieger vom Platz geht, grenzt an ein mittleres Wunder, auf der deutschen ESC-Seite lobt man gar den"Nerd-Charme": Daði Freyr dreht mit seinem dancy Indie-Elektropop "Think About Things" schon längst Runde um Runde in den Sozialen Netzwerken. Sogar Hot Chip fertigten jüngst einen arschcoolen Remix an. Der Track verkörpert bei aller Melodieseligkeit sicher vieles, nur keinen Mainstream. Den Hut ziehen darf man auch vor Dänemark: "Yes" ist zwar eine Folkpop-Bombasthymne, ihre Komposition zieht aber wirklich alle Register des Popvokabulars.
Unterm Strich klingen viele Beiträge des vorliegenden Überblicks zum Eurovision Song Contest 2020 so, wie man es erahnt hat. Albanien macht mit überkandidelter Emotion den Anfang ("Fall From The Sky"). Armenien und Griechenland setzen mit "Chains On You" und "Supergirl" auf den beliebten Ansatz westliches Clubbing meets östlicher Melodieeinschlag. Dancepop beziehungsweise generische Club-Formatradio-Sounds stammen zudem aus Weissrussland, Australien, Zypern, Nordmazedonien, Moldau, Serbien, Tschechien (mit leichtem Toastingeinschlag), Ukraine, Spanien und Deutschland.
Ben Dolic hätte in Rotterdam jedenfalls den Titel ziemlich sicher nicht geholt. Lettlands Beat richtet sich dann offensichtlich ans junge Publikum: "Still Breathing" fällt hier zwischen Hip Hop-Tempo und überdrehten Breakbeat-Einspielern etwas aus dem Rahmen. Passend düster im Text bleibt der wohl dramatischste Beitrag des Teilnehmerfelds. Tornike Kipiani aus Georgien fragt: "Why don't you take me as I am?" Der Song hätte unter Wettbewerbsbedingungen vermutlich weniger Chancen auf einen vorderen Platz.
Natürlich gibt es viele Balladen, so aus Norwegen, Portugal oder Slowenien. Den interessantesten Titel liefern hier die Niederlande: "Grow" klingt dank Elektro-Ambient-Sound überraschend anders. Als vom Titel her irritierendster Beitrag geht "Alcohol You" durch, ein Song über eine gescheiterte Beziehung: anziehende Stimme, hübsch, 'Fridays for Future"-affin, jung ... das internationale Radio hat die Rumänin Roxen längst auf dem Schirm. Frankreichs "The Best In Me" schießt beim Versuch, Chansonfreunde und Filmmusikfans gleichermaßen anzusprechen, übers Ziel hinaus.
Standardpop mit Schlagerfeel schicken Estland und Kroatien ins Rennen. Großbritannien ("My Last Breath" im Midtempo) und auch Irland (das ziemlich flotte "Story Of My Life") richten sich ans gemeine Poprock-Publikum. Der israelische Beitrag "Feker Libi" bringt dagegen als einziger afrikanische Vibes ins Spiel.
Den funky Dance, der fast ein wenig auf Jamiroquai macht, hätte man Österreich ("Alive") dann gar nicht zugetraut. Auch San Marino versucht diese Karte zu spielen ("Freaky!"). Belgien steuert mit der Trip Hop-Ballade "Release Me" und dank der Stimme von Hooverphonic-Sängerin Luka Cruysberghs einen angenehmen Song bei.
Im diesjährigen Teilnehmerfeld darf sich aber neben Island vor allem Finnland etwas einbilden: Aksel Kankaanrantas atmosphärisch ansprechende Stimme kommt sehr klar, melancholisch, aber nicht zu übertrieben emotional. Im Refrain fährt die bombastisch angelegte Elektroballade "Looking Back" zudem richtig schicke Harmonien auf. Im Kontext dieser Compilation: ein Sieger der Herzen.
Alles in allem gibt es bei den 41 Tracks handwerklich und produktionstechnisch natürlich wenig zu kritisieren. Vergessen sind die meisten Titel am Sonntag aber trotzdem wieder. Hätte der ESC tatsächlich stattgefunden, hätte der Autor dieser Zeilen gerne Island vorne gesehen. Oder eben: Finnland.
3 Kommentare mit 2 Antworten
"Club-Formatradio-Sounds stammen zudem aus Weissrussland, Australien, Zypern, Nordmazedonien, Moldau, Serbien, Tschechoslowakei (mit leichtem Toastingeinschlag)"
Die Tschechoslowakei macht aber dieses Jahr gar nicht mit. Warte, wenn ich mich recht erinnere, machen sie bestimmt schon seit 30 Jahren nicht mehr mit, hmm. komisch... Jugoslawien ist dieses Jahr auch nicht dabei, seltsam.
auweia, da siehste mal, wie einen dieses event in der zeit zurückschmeißt. ist mir nicht mal aufgefallen.
*freu* Endlich mal wieder was von den Various Artists.
Waren die letztes Jahr nicht mir "Special Guest" auf Tour ?
Wäre ein guter Jahrgang gewesen dieses Jahr 2020.