laut.de-Kritik
Als Post-Punk, Acid-House und Drogen eins wurden.
Review von Michael SchuhEine Veröffentlichung wie "Factory Records - Communications 1978-92" wirft naturgemäß viele Fragen auf. Zum Beispiel: "Wie kann es sein, dass ich keine Platten von The Durutti Column besitze?" Oder: "Wie viele Drogen sollte man mindestens einnehmen, um alle vier CDs hintereinander zu überstehen?"
Fragen wie diese entstehen nur dann, wenn Label-Verantwortliche über Jahre hinweg Entdeckergeist, Mut und Wahnsinn sehr geschickt bündeln, um es mal der Aufnahmekapazität der heutigen SMS-Generation entsprechend knapp auszudrücken.
Dabei könnte man allein schon über den Wahnsinn des Factory-Bosses Tony Wilson einen ganzen Roman schreiben. Dank seiner Bandentdeckungen Joy Division/New Order und Happy Mondays (hier mal stellvertretend für den Madchester-Hype und die Haçienda) zählt das Label des im August 2007 verstorbenen Impressarios auf ewig zu den wichtigsten Adressen britischen Musik-Undergrounds der 80er Jahre.
Ganz ähnlich wie im Hause Mute Records (deren 10-CD-Vermächtnis gleich sechs komplette Jahre abdeckte) weckt auch "Communications 1978-92" in erster Linie das Entdecker-Gen im Musikliebhaber.
Das Boxset versteht sich als sinnvolles Update der 1991 erschienenen Factory-Box "Palatine". Seinerzeit ordnete man den eigenen Label-Output ebenfalls auf vier Scheiben, nur leider nicht immer logisch nachvollziehbaren Kategorien wie "Tears In Their Eyes" oder "Life's A Beach" unter.
"Communications 1978-92" geht chronologisch vor und darf sich damit schmücken, von Englands Alleskönner Jon Savage kompiliert worden zu sein. Klar, dass der erst mal nur ein Drittel der alten "Palatine"-Tracklist gelten ließ und sich ansonsten eigene Lieblingssongs rausgepickte.
Insgesamt gibt es trotzdem wenig zu bemäkeln: Sieben Songs von den Happy Mondays, vier von Joy Division, acht von New Order (plus vier von NO-Soloprojekten wie Revenge, Electronic und The Other Two) lassen bei 63 Tracks doch noch genug Platz für Unbekanntes und Skurriles.
Hierzu zählt ganz sicher Biting Tongues Funk-Beitrag "Compressor", der von der künftigen Elektro-Spielwiese der Nachfolgeband 808 State aber mal gar nichts zu verkünden wusste. Mit X-O-Dus ("English Black Boys") fand sogar noch zu Factory-Anfangszeiten eine Reggae-Combo auf das als Post Punk-Adresse verschrieene Label.
So ist es denn auch die von Wilson betriebene, stilistische Vielseitigkeit, die im Gesamtpaket überrascht. Die sehr jazzlastigen (erfolglosen) Kalima etwa, nach denen sicher kein Joy Division-Fan je Entzugserscheinungen spüren dürfte, bezeichnete Wilson später einmal als "Sade, nur zwei Jahre zu früh".
Dahingehend hätte mich persönlich brennend interessiert, wie seine Begründung fürs Signing der Band Life ausgesehen hätte, deren "Tell Me" leider nur maximal mittelmäßigen '84er Pop darstellt. Aber was wäre eine solch reichhaltige Rückschau ohne nachträgliche Fragezeichen? Mut, Entdeckergeist, wir sprachen ja schon davon.
Außerdem ist das meiste weniger Bekannte schlicht und ergreifend großartig. Gleich Cabaret Voltaire mit ihrer Terrorismus-Bandschleife "Baader Meinhof" klingen nicht weniger gruselig als Ian Curtis' wohl bekannte Schauerarien. A Certain Ratio spinnen auf "All Night Party" zunächst eine gespenstisch monotone Gothic-Atmosphäre, bevor sie mit "Shack Up" einen Post Punk/Funk-Klassiker im Gang Of Four-Stechschritt rauslassen und dabei schon die Acid-Pfeife rausholen (Wohlgemerkt: Wir befinden uns noch im Jahr 1980!).
Hach, er kribbelt einfach wie Brausepulver auf der Zunge, dieser Früh-80er Post Punk-Charme mit seinen dünnen Drums und der von Avantgarde und Drogen befeuerten Artikulation.
Ganz vorne dabei wie gesagt The Durutti Column, die hier mit spacigen, sehr modern und zeitlosen Instrumentals vertreten sind, bei denen ein Herr Frusciante oder auch Ratatat schön aufmerksam hingehört haben (grandios: "Messidor").
Dass sogar die Liverpooler Synthiepopper OMD mit Martin Gores altem Lieblingssong "Electricity" zunächst auf Factory gelistet waren, dürfte für manchen ebenso überraschend sein wie das Auffinden des Crawling Chaos-Juwels "Sex Machine", mit seinem Uralt-Sequenzer und der gepressten Stimme, ein entfernter Verwandter von Tuxedomoons "No Tears".
Auch das wunderbar subtile "Nightshift" von der Brüsseler Band The Names empfiehlt sich für jeden Frühlingssampler, genau wie der ewig gültige New Wave-Pop der Distractions ("Time Goes By So Slow"). Die einzige Band, die tatsächlich wie ein New Order-Klon klingt, ist The Wake, deren "Talk About The Past" aber auch aller Ehren wert ist und einen jungen Bassisten namens Bobby Gillespie featuret.
Dank eines sehr schön aufgemachten Booklets samt klugen Savage-Notizen darf man sich auch über Anekdoten amüsieren wie jene über Alan Hempsall. Der Sänger der von Wilson wenig, von New Order-Manager Rob Gretton dafür umso mehr geschätzten Band Crispy Ambulance soll nach Ian Curtis' Tod das Angebot abgelehnt haben, bei New Order als Sänger einzusteigen. File under: Pete Best.
Hintenraus wirds dann immer synthetischer, zwangsläufig aber nicht besser. Gut, Section 25s Acid House-Vorläufer "Looking From A Hilltop" (Frühjahr 1984) bleibt natürlich ein Knaller.
Dass sich aber die Happy Mondays nach Eigenaussage vor allem deshalb gründeten, um neben dem Drogennehmen noch was anderes zu machen, hört man ihrem Sound meiner Ansicht nach auch ziemlich oft an. Kurz darauf war Factory Records übrigens bankrott und die Hacienda meldete Konkurs an.
Noch keine Kommentare