laut.de-Kritik
Die Geschichte eines Indie-Labels auf zehn CDs!
Review von Michael SchuhWoran erkennt ein Musik-Redakteur, wie lange er schon im Geschäft ist? Ganz einfach: Wenn er vor den Augen der versammelten Kollegenschaft kommentarlos die größten CD-Boxen aus der Post fischt und dieses Tun weder freundliche Widerworte noch hässliche Schmähungen hervorruft. So geschehen neulich bei Pearl Jams 7-CD-Box und nun bei der um drei CDs umfangreicheren Box aus dem Hause Mute Records.
Gut, natürlich beten die Kollegen insgeheim, dass meine daraus resultierenden Texte mit Romanlänge nicht an einem der Tage fertig werden, an dem sie für die Startseite verantwortlich sind. Manchmal muss man aber einfach ausholen und bei einer Labelgeschichte, die die kompletten Singles-Jahre von 1978 bis 1984 nachzeichnet, wohl erst recht.
"Mute Audio Documents 1978-1984" ist das Vermächtnis von Daniel Miller, dem Gründer des Londoner Indie-Labels Mute Records. Das mag ein wenig pathetisch und wie ein posthumer Nachruf klingen, doch alles andere ist der Fall: Mute lebt bis heute und steht nach wie vor für interessante Musik abseits des Mainstreams.
Ob Maps, Liars, Blues Explosion oder Mediengruppe Telekommander, eine einzige Stilrichtung sollte man bei Millers Laden nicht erwarten.
Doch ganz ähnlich wie in einer Liebesbeziehung sind auch bei Labels oft die ersten Jahre die spannungsreichsten. Der Kitzel des Neuen, die Aufopferung und nicht zuletzt: die Jugend - ein Geben und Nehmen voller Hingabe zwischen Künstler und Label.
Daniel Miller ist gerade mal 29 Jahre jung, als das Unternehmen Labelgründung mit schicksalhafter Vehemenz über ihn herab fällt, wie kurz darauf der kommerzielle Erfolg über seine Jungs von Depeche Mode. Anstatt in seinem Job als gelernter Filmcutter zu bleiben und sich einen Bausparvertrag zuzulegen, besucht Miller Konzerte von Throbbing Gristle und klimpert anschließend zuhause noch ein paar ungelenke Melodien auf seinem frisch erstandenen Synthesizer.
Es hätte dabei bleiben können, bei Millers erster und einziger Single "T.V.O.D./Warm Leatherette" von 1978, die die erste CD des Boxsets eröffnet. Kruder Analog-Punk, der nicht mehr als drei Ideen verarbeitet. So minimal wie möglich, ein Konzept, das Miller bis heute begeistert. Doch er traf Fad Gadget, einen Absolventen der Kunsthochule Leeds und Freund der Pantomime, und plötzlich musste er einfach ein Label gründen, wie er sich heute erinnert.
In der Musik des frühen Fad Gadget manifestiert sich das breite Interessenfeld des Daniel Miller beängstigend deutlich: der synthetische Robotergroove, den der Brite seit Kraftwerk liebt, die nölige Monotonie des Gesangs, die auch bei den Ramones gerne mitschwingt, die Naivität und die Experimentierfreude von Krautrockern wie Can und Neu!, die akustischen Störfeuer der später zum Label stoßenden Neubauten und die Pop-Melodien, mit denen Depeche Mode Erfolg haben sollten: In Stücken wie "Ricky's Hand" oder "Ladyshave" ist all dies gegenwärtig.
Die zehn CDs der Box belegen außerdem: Mute ist ein sehr seltsames Label, aber gerade deswegen auch recht einzigartig. So dürfte es kaum jemanden außer dem Labelboss selbst auf der Welt geben, der sowohl zu den akustischen Bandschleifen von Non (1980) glücklich seufzt, als auch zu Yazoos "Don't Go" (1982) mit den Fingern schnippt.
Vom Minimalstart bewegte man sich jedoch schnell weg: Miller beließ es bei seinem Scherzprojekt Silicon Teens (1979/80), bei dem er Rock'n'Roll-Klassiker auf einem Keyboard nachspielte, Fad Gadget gruppierte eine Band um sich und Depeche Mode entdeckten das Sampling.
Sehr schön herauszuhören übrigens in "Love In Itself" (1983) oder natürlich der Kapitalistenhymne "Everything Counts", die witzigerweise mit "Work Hard" ein kleines Sozialismus-Manifest auf der B-Seite mitführte (Refrain: "You've got to work hard / you've got to work hard / if you want anything at all").
Respekt gebührt Miller dafür, die Düsseldorfer Agit-Elektroniker der Deutsch-Amerikanischen Freundschaft in ihrer interessanten Phase entdeckt zu haben. "Kebabträume" und "Der Räuber Und Der Prinz" fügen sich haargenau in Millers Minimalverständnis ein, das DAF-Album "Die Kleinen Und Die Bösen" ist 1980 das erste überhaupt auf Mute.
Schon anhand der bislang aufgezählten Bands sollte sich die Frage erübrigen, ob die 10-CD-Box auch für Goldfrapp-Fans interessant ist. Entdeckergeist ist gefragt, dann kommt man voll auf seine Kosten. Die mit rund 50 Euro für zehn CDs, einem 72-seitigen Booklet samt Diskographien, Coverabbildungen, Bandinfos und einem aktuellen Miller-Interview übrigens im überaus fairen Bereich liegen.
Neben DAF importierte Miller übrigens nicht nur die weithin bekannten Einstürzenden Neubauten aus Deutschland, sondern auch Die Doraus Und Die Marinas, wenn auch nur für die NDW-Single "Fred Vom Jupiter". Kompositorisch sicher auch nicht weit entfernt von den Depeche Mode-Kinderliedern "See You" und "The Meaning Of Love".
Von The Assembly, einem Ein-Single-Projekt im Jahr 1983, spricht heute zu Recht niemand mehr. Hier trafen die vermeintlichen Antipode Vince Clarke (Yazoo, Erasure) und Feargal Sharkey (The Undertones) zusammen, um die äußerst fragwürdige Nummer "Never Never" unters Volk (und in die Charts!) zu jubeln. Die instrumentale B-Seite ist dagegen gut gelungen.
Ebenso Robert Görls unbekanntes Stück "Darling Don't Leave Me" mit Eurythmics-Sängerin Annie Lennox als Gastsängerin. In den immer noch vorwiegend synthetischen Mute-Reigen bricht im selben Jahr Millers neues Krach-Signing aus Australien ein, The Birthday Party, mit dem das Label wieder neue Hörerschichten erobert.
Dass die Mute-Künstler zwar Teil eines familiär geführten Unternehmens waren, sich gegenseitig aber deswegen nicht bei jeder Weihnachtsfeier in den Armen lagen, ist ebenfalls überliefert. So zogen Depeche Mode ihren Mentor Miller gerne damit auf, sich mit Nick Cave einen offensichtlich völlig untalentierten drogenabhängigen Australier ans Bein gebunden zu haben.
Neubauten-Chef Blixa Bargeld wiederum lancierte die in unersättlichen Fankreisen bis heute diskutierte Anekdote, Depeche Mode hätten sich für "People Are People" an Sample-Restbeständen seiner Band bedient. Da war es vielleicht ganz praktisch, dass sich gewisse Mute-Big Player wie zum Beispiel Vince Clarke und Nick Cave erstmals im Jahr 1987 gegenüber standen, wie Miller kürzlich im De:Bug-Interview verriet.
Die mit "Rarities" betitelte Abschluss-CD hält mit einem 25-minütigen Live-Auftritt von Daniel Miller und Robert Rental aus dem Jahr 1979 ein ganz besonderes Schmankerl bereit. Bislang nur in einer streng limitierten Rough Trade-Pressung aus dem Erscheinungsjahr in Umlauf, unterstreicht diese Aufnahme überdeutlich, wes Geistes Kind der Musikfreak Miller war und ist.
Freuen wir uns also auf weitere mutige Mute-Veröffentlichungen. Trotz des Verkaufs an das Majorlabel EMI für umgerechnet 34 Mio. Euro im Jahr 2002 bleibt Daniel Miller weiterhin für die Auswahl der Künstler hauptverantwortlich.
1 Kommentar
OH mann....das muss ja so ein verdammt fettes Bijoux sein, meine gesamte Jugend steckt in dieser Box....wenn ich nur da Geld hätte!! Arrrgh