laut.de-Kritik
Auch nach 40 Jahren gibts noch was zu entdecken.
Review von Giuliano BenassiDie Jahre, die auf vier oder neun enden, sind schon fast zum Fürchten. Denn pünktlich zum mehr oder weniger runden Jubiläum flimmern wieder die Bilder des Woodstock-Festivals durch den Äther, Zeitungen jeglicher Couleur füllen sich mit Hintergrundartikeln, Interviews und Feuilleton-Beiträgen: die ewige Aufbeschwörung von Peace, Love and Music, wie das Motto der Veranstaltung im August 1969 lautete.
Ob es tatsächlich so war, sei dahin gestellt. Heutzutage würden die Veranstalter angesichts der katastrophalen Rahmenbedingungen wahrscheinlich noch direkt vor Ort gelyncht und anschießend mit so vielen Klagen konfrontiert werden, dass sie nach Afghanistan auswandern müssten, um in Ruhe gelassen zu werden.
Keine Security, kaum Klos, nichts zu essen, medizinische Versorgung Fehlanzeige – ein Entrüstungs-Tsunami würde über Foren und Artikel hinwegspülen. Kaum zu glauben, dass es tatsächlich noch etwas über diese Veranstaltung zu erzählen gibt.
Erstaunlicherweise ist das aber der Fall, wie vorliegende üppige Sammlung beweist. Deren Ziel es nicht, wie in der Vergangenheit, einen Mythos zu definieren, sondern die Ereignisse so darzustellen, wie sie wirklich stattgefunden haben.
Dazu dient ein üppiges, knapp 80-seitiges Buch, das reich bebildert die drei Festivaltage Revue passieren lässt, ohne wie so oft bei solchen Gelegenheiten in verträumte Phantasiewelten abzudriften. Drei Eckpunkte kristallisieren sich heraus: Woodstock war lausig organisiert, blieb trotzdem friedlich, und die Musik war trotz schlechtester technischer Bedingungen stellenweise phantastisch.
Ein Punkt, der schon fast überrascht: Die Aufnahmen der Auftritte waren meist von guter Qualität. Das lag daran, dass tatsächlich hochwertige Gerätschaften und Techniker vor Ort waren, die sich aber um Mitschnitte und nicht um Bands oder Publikum kümmerten.
Letztendlich dürften nur wenige zehntausend der geschätzten 500.000 Zuschauer tatsächlich etwas von der Musik mitbekommen haben. Den Bands auf der Bühne, die mehr oder weniger ins Blaue spielten, weil die Monitoranlagen ständig ausfielen, dürfte es nicht wesentlich besser ergangen sein. Viele der Teilnehmer überarbeiteten ihre Auftritte im Studio oder nahmen sie gänzlich neu auf - wie im Falle Ravi Shankars.
Erstmals sind nun die Auftritte in chronologischer Reihenfolge zu hören. Dabei hatte jeder Tag ein Thema, doch angesichts biblischer Staus, Unwettern und technischer Mängel geriet das Programm hoffnungslos durcheinander.
So kamen am ersten Tag die Musiker zum Zuge, die schon vor Ort waren. Oder die noch blutjunge und völlig unbekannte Melanie, die sich eine Gitarre schnappte und einfach in einer Lücke auf die Bühne trat. So legte sie die Grundlage ihres späteren Erfolgs. Der Einzige, der fehlte, war Bob Dylan: "Endlessly rumoured to be making a surprise appearance; surprise – he didn't", wie der Autor des Buches trocken feststellt.
Auf den Folk folgte an Tag zwei der Rock'n'Roll. Carlos Santana und Band, die damals noch nicht mal ihr erstes Album veröffentlicht hatten, legten mit "Soul Sacrifice" gleich den Höhepunkt ihres Schaffens vor.
Canned Heat lieferten mit "Going Up The Country" den späteren Titeltrack der Veranstaltung, äußerten sich im Nachhinein aber eher enttäuscht über diese Version. Was sie wirklich drauf hatten, zeigen sie im Jam "Woodstock Boogie", das hier in seiner vollen Länge von 28 Minuten zum ersten Mal zu hören ist.
Dass nicht alles Peace war, bewiesen um vier Uhr nachts The Who, die in Woodstock ihre Rockoper "Tommy" uraufführten. Als Aktivist Abbie Hoffmann auf die Bühne stürmte und sich ein Mikrophon krallte, zog ihm Pete Townsend wutentbrannt seine Gibson über die Rübe. "Fuck off my fucking stage", brüllte er Hoffmann hinterher, als dieser panisch flüchtete. "The most political thing I ever did", ulkte der Gitarrist später.
Tag drei - alle Konzepte waren längst von schlechtem LSD und Regenstürmen weggeschwemmt - begann mit einem begeisternden Auftritt von Jefferson Airplane. Ähnlich wie Santana lieferte Jüngling Joe Cocker mit "With A Little Help From My Friends" anschließend den Höhepunkt seines Schaffens. Am Abend fand der erst zweite Auftritt von Crosby, Stills & Nash statt. Und der allererste des Trios mit Neil Young.
Das allein reicht schon zur musikalischen Mythenbildung, doch der Höhepunkt sollte noch folgen. Akribisch wurde Jimi Hendrix' Auftritt rekonstruiert: Als er das Festival früh morgens abschloss, hatte er tagelang nicht geschlafen und eine Drogenorgie hinter sich. Die Band, die ihn begleitete, hatte zuvor noch nie zusammen gespielt.
Doch die improvisierte US-Nationalhymne, die den Auftritt besiegelte, machte Hendrix endgültig zur Legende. Die weiße Stratocaster, die er damals spielte, ist das Excalibur des Rocks – die berühmteste und teuerste Gitarre aller Zeiten. Dass dieser musikhistorische Moment vor fast leeren Rängen und einer Müllhalde stattfand, die Neapel erblassen ließe, ist aus diesem Blickwinkel nur eine Fußnote.
Die Erkenntnis nach sechs CDs: Auch wenn es sich hier nicht unbedingt um Füllmaterial handelt, bleiben die Originalalben trotz wilder Schnitte und zum Teil fraglicher Auswahl die Referenz, zumal aus rechtlichen Gründen ein Hammerstück wie "I'm Going Home" von Ten Years After fehlt. Die Liebe zum Detail und die schöne Verpackung machen diese Sammlung trotzdem erwerbenswert.
Dass es sich um die definitive Woodstock-Sammlung handelt, ist angesichts vergangener Jahrestagen dennoch nicht zu erwarten, zumal die Verantwortlichen in Jahre langer Arbeit so gut wie alle Auftritte aufgespürt und restauriert haben. Insgesamt wären es 30 CDs gewesen, aus Marketing-Gründen verschwanden vier Fünftel des Materials aber wieder im Archiv. Was nicht ist, kann ja noch werden - spätestens in zehn Jahren zum 50. Jubiläum.
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