laut.de-Kritik

Kunstprodukte jenseits von MTV-Format-Clips.

Review von

Die junge Technobewegung verschaffte sich diesseits des Atlantiks in Sheffield eines ihrer wichtigsten Standbeine. Dass nicht die Metropole London zum Ausgangspunkt zahlloser Releases wurde, die heute längst in den Rang von Klassikern aufgestiegen sind, sondern die nordenglische Arbeiterstadt, ist vor allem zwei Herren zu verdanken. Steve Beckett und Rob Mitchell sind ihre Namen und sie eröffneten in den späten 80er Jahren zunächst einen Plattenladen, den sie größtenteils mit den neuesten House-Importen aus Chicago und Detroit bestückten.

Schnell entwickelte sich das kleine Geschäft zum Biotop der aufkeimenden Houseszene. DJs kauften hier gerne ein und so manch einer von ihnen legte Beckett und Mitchell ein Tape auf den Tresen mit selbstkomponierten Tracks. Sweet Exorcist aka DJ Parrot und Richard H. Kirk, der mit Cabaret Voltaire bereits Musikgeschichte geschrieben hatte, wählte diesen Weg ebenso wie zwei junge Typen mit Namen Gez Varley und Mark Bell.

Also gründeten Beckett und Mitchell kurzerhand ein Label, um die Tracks, die sich in ihrem Laden ansammelten, auf Vinyl pressen zu lassen. Dies ist die Geburtsstunde von Warp Records, einem der wirkungsmächtigsten Elektronik-Labels aller Zeiten. Ausschließlich "Weird And Radical Projects", so die Intention der Warp-Väter, sollten auf ihrem Label Platz finden.

Eine Maxime, die bis heute gilt und über die Jahre von Varley und Bell aka LFO ebenso penibel erfüllt wurde, wie vom durchgeknallten Ausnahmetalent Aphex Twin, dem exzentrischen Finnen Jimi Tenor, dem Breakbeat-Künstler Squarepusher, den Alt-Stars Sabres Of Paradise, den Elektronik-Dubbern von Nightmares On Wax oder den Groove-Wissenschaftlern von Autechre. Von Beginn an mit inbegriffen in der warp-schen Definition elektronischer Kultur war die optische Dimension.

Vom frühesten Warp-Release an dürfen wir uns deshalb über Videos freuen, die bei LFOs "LFO" oder Nightmares On Wax' "Aftermath" zugegebenermaßen noch ziemlich roh und unbehauen daher kommen. Spätestens mit dem Aphex Twin-Track "On", dessen Video unter der Regie von Pulp-Sänger Jarvis Cocker Form annahm, wachsen sich die Warp-Clips zu eigenständigen Kunstprodukten aus. Damit ist eine Entwicklung eingeleitet, die mit den avantgardistischen Meisterwerken aus Chris Cunninghams Gruselkabinett seinen vorläufigen Höhepunkt erreicht.

Natürlich dürfen "Windowlicker" und "Come To Daddy" (beide jeweils im Director's Cut) auf "Warp Vision" nicht fehlen. Aber auch abseits der bekannten Klassiker gibt es bei Plaid ("Itsu"), Jamie Lidell ("The City") oder Autechre ("Second Bad Vilbel") allerlei Ungesehenes zu entdecken. Warp Records zeigt hier, dass es eine schöne, bunte und manchmal auch verstörende Welt jenseits der MTV-Format-Clips gibt. Man muss nur hinschauen.

Fast ist man es müßig zu sagen, weil es längst zur Selbstverständlichkeit geworden ist: auch das Hardcoverdesign von "Warp Vision" durch die befreundeten Graphiker der Designer's Republic macht dem Inhalt natürlich alle Ehre. Außerdem hat Warp Records noch einen 55-minütigen Mash-Up seines Back-Katalogs auf CD gepresst. Mehr als genug Kaufargumente, wie ich meine. Also schnell zugreifen, bevor andere es tun.

Trackliste

  1. 1. DVD
  2. 2. Sweet Exorcist - Testone / Martin Wallace & Jarvis Cocker 1990
  3. 3. LFO - LFO 1991
  4. 4. Nightmares On Wax - Aftermath / Jarvis Cocker 1991
  5. 5. Aphex Twin - On / Jarvis Cocker 1993
  6. 6. I Smell Quality - David Slade 1994
  7. 7. LFO - Tied Up / David Slade 1994
  8. 8. Sabres of Paradise - Wilmot / Douglas Hart 1994
  9. 9. Seefeel - Fracture / Seefeel 1994
  10. 10. Aphex Twin - Donkey Rhubarb / David Slade 1995
  11. 11. Autechre - Second Bad Vilbel / Chris Cunningham 1995
  12. 12. Aphex Twin - Come To Daddy (Directors Cut) / Chris Cunningham 1997
  13. 13. Squarepusher - Come On My Selector / Chris Cunningham 1997
  14. 14. Jimi Tenor - Midsummers Night / Jimi Tenor & Sökö Kaukoranta 1998
  15. 15. Aphex Twin - Windowlicker (Directors Cut) / Chris Cunningham 1999
  16. 16. Jimi Tenor - Total Devastation / Jimi Tenor & Sökö Kaukoranta 1999
  17. 17. Broadcast - Papercuts / Barback 2000
  18. 18. Jamie Lidell - Daddys Car / Frederic D 2000
  19. 19. John Callaghan - I'm Not Comfortable Inside My Mind / John Callaghan 2000
  20. 20. Anti-Pop Consortium - Perpenticular / Vector Caliber 16 (Markus Wambsgans) 2001
  21. 21. Plaid - Eyen / Jean Luc Chansay 2001
  22. 22. Antipop - Ghostlawns / Carlos Arias 2002
  23. 23. Autechre - Gantz Graf / Alex Rutterford 2002
  24. 24. Aphex Twin - Nannou / Laurent Briet 2003
  25. 25. Chris Clark - Gob Coitus / Lynn Fox 2003
  26. 26. LFO - Freak (Directors Cut) / Daniel Levi 2003
  27. 27. Luke Vibert - I Love Acid / Delicious 9 2003
  28. 28. Mira Calix - Little Numba (CR vid) / Daniele Lunghini 2003
  29. 29. Plaid - Itsu (CR Vid) / Pleix 2003
  30. 30. Prefuse 73 - Half Of What (CR vid) / Ed Holdsworth 2003
  31. 31. Opto - Scientific / tDR 2003
  32. 32. Beans - Mutescreamer / Adam Levite 2004
  33. 33. Jamie Lidell - The City / Frederic D 2004
  34. 34. CD
  35. 35. 55-minütiger Mash-Up des Warp-Back-Katalogs

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