laut.de-Kritik

Neben "Kind Of Blue" das populärste Album der Jazz-Geschichte.

Review von

"Ich bin Weihnachten immer niedergeschlagen", beendet Charlie Brown seinen ersten Monolog. Sicher nicht die Worte, auf die Coca Cola und CBS hofften, als sie das erste, auf Charles M. Schulz Peanuts-Strips basierende TV-Special in Auftrag gaben. Als wäre dies nicht genug, spart der weitere Verlauf des Films nicht mit Konsumkritik. Dazu kommen nahezu in Zeitlupe ablaufende Animationen, Momente der vollkommenen Stille, Bibelzitate und dieses ständige Jazzgedudel. Jedem einschließlich der Produzenten Lee Mendelson und Bill Melendez war klar, dass man hier einen Flop produziert hatte. Ein Desaster. Das Ende der Peanuts.

Stattdessen gelang ihnen mit "A Charlie Brown Christmas" ein Standard, der seit seiner Erstausstrahlung 1965 jedes Jahr im amerikanischen Fernsehen lief. Eine kleine, feinfühlige Geschichte voller Herz, Charme und Besinnlichkeit, in der es nicht auf die Größe des Weihnachtsbaums ankommt.

Nun bringt die Musik des 1976 verstorbenen Vince Guaraldi bereits über fünfzig Jahre Kinder unterschwellig den Jazz nah. Damit hat der Pianist wahrscheinlich mehr Menschen erreicht und an das Genre herangeführt als Miles Davis, John Coltrane und Nina Simone zusammen. Auch wenn diese ihre Musikrichtung immer wieder aufbrachen und weiter entwickelten, prägt uns nichts so sehr wie unsere Kindheit. Folgerichtig nimmt "A Charlie Brown Christmas" nach Davis "Kind Of Blue" den zweiten Platz der meistverkauften Jazz-Platten ein. Tendenz mit jeder Wiederholung steigend.

All dies entwickelte sich aus Mendelsons verqueren Idee, die Verfilmung einer bekannten Comicreihe ausgerechnet mit Jazz zu unterlegen. Nachdem er Guaraldis kleinen Hit "Cast Your Fate To The Wind" im Radio hörte, verpflichtete er ihn 1963 für die nie ausgestrahlte Schulz-Dokumentation "A Boy Named Charlie Brown". Als 1965 Coca Cola für eine Verfilmung anklopfte, war schnell klar, wer auch diesmal den Soundtrack übernehmen sollte.

Seine Kompositionen und Improvisationen passen perfekt zu den Peanuts. Zu einer Zwischenwelt, in der Erwachsene nur als "Wuah-Wuah-Wuah" aus dem Off existieren, in denen es jedoch an Erwachsenen nur so wimmelt. Ihre Rollen übernehmen Kinder wie der depressive Charlie Brown, der melancholische Linus, die herrschsüchtige Lucy und der verträumte Schröder, die sich den Problemen und Fragen des Lebens stellen. Die einzigen durchgehend kindlichen Gemüter, die Charles M. Schulz jemals zeichnete, bleiben Snoopy und Woodstock. Meine Lieblingsfigur, der in Charlie Brown verliebte Wildfang Peppermint Patty, stößt leider erst ein Jahr nach "A Charlie Brown Christmas" hinzu.

Das Album, das seit seiner Wiederveröffentlichung 1978 dem Vince Guaraldi Trio zugeschrieben wird, verbindet Eigenkompositionen mit traditionellen Weihnachtsliedern. Im Grunde ausgelutschte Stücke wie "O Tannenbaum" dienen dabei nur als Ausgangslage, von denen der Pianist zu seinen Improvisationen aufbricht. "My Little Drum" erhebt sich aus Katherine Kennicott Davis' "The Little Drummer Boy".

Sein an Dave Brubeck erinnernder West Coast Jazz umgeht geschickt und voller Melancholie das Überzuckerte, das heutigen Weihnachtsproduktionen inne wohnt. Von Colin Baileys beruhigenden Besen und Monty Budwigs wandelnden Bassläufen begleitet braucht Guaraldi keine Effekthascherei wie Schlittengeläut. Den Schnee lässt er alleine durch seine Klaviatur rieseln.

Wie sehr sich jede Note von "A Charlie Brown Christmas" über die Jahrzehnte in die Seelen seiner Käufer spielte, verdeutlicht die um die misslungenen Neuauflage von 2006 entstandene Kontroverse. Falsch ausgewählte Takes und weitere Fehler führten zu negativen Kritiken und Missmut unter den enttäuschten Fans.

In der deutschen Übersetzung "Die Peanuts – Fröhliche Weihnachten" fiel das bittersüße "Christmas Time Is Here" dem Übersetzungswahn zum Opfer. Stattdessen erklingt bedauerlicherweise "Schneeflöckchen, Weißröckchen". Von Guaraldi als Instrumental geplant, schrieb Mendelson in einer Nacht-und-Nebel-Aktion einen kurzen Text. "Christmas time is here / Families drawing near / Oh, that we could always see such spirit through the year."

Wie bei "Hark, The Herald Angels Sing" übernahm ein Kinderchor der St. Paul's Episcopal Church den Gesang. Die mehrtägigen Aufnahmen dauerten unter dem Protest der Eltern bis mitten in die Nacht. Mehrfach änderte sich die Besetzung des Chors, und als Lohn gab es für jeden Eiscreme. Die wilden Sechziger.

Das beschwingte "Linus And Lucy" mauserte sich zum Leitmotiv der Peanuts-Reihe, das in fast keinem Special und Film fehlt. Wer braucht da im direkten Vergleich schon Ludwig van Beethovens "Für Elise"? Zuerst für die "A Boy Named Charlie Brown"-Dokumentation geschrieben, funktioniert der eingängige Jazz-Ohrwurm ebenso zur Festzeit, wie auch komplett von Charlie Brown getrennt. Guaraldis Basslinie, die fröhliche Hauptmelodie und die Latineinflüsse ließen das Stück zu einem Evergreen werden. Der bekannteste Song auf dem wohl besten Weihnachtsalbum.

"Es sieht ganz einfach aus, ist zugleich aber beeindruckend komplex, ganz ähnlich der Art, wie Charles M. Schulz seinen Zeitungs-Comic angegangen ist", bescheinigt der Autor Derrick Bang ("Vince Guaraldi At The Piano") Guaraldis Soundtrack. "Er hat niemals eine Linie verschwendet, Guaraldi nie eine Note. Jede Note war von Bedeutung." Merry Christmas, Charlie Brown!

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. O Tannenbaum
  2. 2. What Child Is This
  3. 3. My Little Drum
  4. 4. Linus And Lucy
  5. 5. Christmas Time Is Here (Instrumental)
  6. 6. Christmas Time Is Here (Vocal)
  7. 7. Skating
  8. 8. Hark, The Herald Angels Sing
  9. 9. Christmas Is Coming
  10. 10. Für Elise
  11. 11. The Christmas Song

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