laut.de-Kritik

Ein Versprechen für die Zukunft.

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"My teachers taught me we were slaves, my momma told me we was kings / I don't know who to listen to, I guess we somewhere in between", rappt Vince Staples mit monotoner Gleichgültigkeit in der Stimme auf "Summertime", dem Herzstück und titelgebenden Track seines Debüts.

Der Jungspund aus Long Beach wirkt in der 2015er Freshmen Class des XXL Magazins neben anderen Newcomern wie Fetty Wap oder OG Maco trotz seiner erst 22 Jahre wie ein alter Mann, der schon alles gesehen hat. "They found another dead body in the alley."

Der Vergleich mit den Genannten macht am ehesten deutlich, was "Summertime '06" zu einem Versprechen für die Zukunft mutieren lässt. Während Wap mit "Trap Queen" und Maco mit "U Guessed It" millionenfach geklickte Chartstürmer erschufen, die in Zeiten des Thuggers, der Migos oder Gucci Manes mit ihrer Cloud-Trap-Mischung eben genau in den Zeitgeist fallen, verzichtet Staples komplett auf anbiedernde Radiohits.

Das ist auch gut so, denn die würden sicher nur die durchgängig dichte und zum Zerreißen gespannte Atmosphäre zerstören, die Vince mit seinem kühlen, nüchternen Vortrag erschafft. Zu erzählen hat der Junge trotz seines Alters nämlich Einiges.

Seine Heimatstadt Long Beach gehört zu den Teilen von Los Angeles, in die sich verwirrte Touristen lieber nicht verirren sollten. Die Compton-Romantik verspricht auch hier ein Aufwachsen mit Drogenhandel, Gewalt und blutige Gangkriege sind an der Tagesordnung. "No matter what we grow into, we never gonna escape our past." Erbarmungslos breitet der Schulabbrecher vor dem geistigen Auge des Zuhörers sein Leben als "gangbanger" auf der Straße aus.

Dabei wird schnell offensichtlich, dass sich seit seinem ersten Mixtape "Shyne Coldchain Vol. 1" von 2011 eine Menge getan hat: Seine damals lakonische Art, die durchaus noch Vergleiche mit Kumpel Earl Sweatshirt zuließ, macht auf "Summertime '06" Platz für größerere Arrangements, wichtigere Statements und mehr Dringlichkeit.

Während Sweatshirt in die vertrackten Irrwege seiner Gedankenwelt entführt, spuckt einem Staples kompromisslos die messerscharfe Dokumentation eines Lebens vor die Füße, das, gerade weil es so weit weg zu sein scheint, eine unnachgiebige Anziehungskraft ausübt.

"Summertime '06" verkommt aber nicht zu einem klassischen Straßenrap-Album: Selbstinszenierung und filmreife Gangster-Geschichten haben keinen Platz in seiner bedrückenden Welt. Lieber verliert sich Staples in der sachlichen Beschreibung der Szenerie: "Four deep, five seats, three guns", zählt er etwa gleichgültig in "Get Paid" auf, statt von schweißnassen Händen und Adrenalinschüben zu erzählen, während er mit seiner Crew das nächste Ding dreht.

Der Verzicht auf die klassische Gangster-Inszenierung spiegelt Staples Gemütslage wider: Der Junge aus Long Beach ist es einfach leid seinen Vater in den Knast wandern zu sehen, die Freunde bei Schießereien zu verlieren oder seiner Mutter beim Drogen-Verticken zu helfen. Da scheint ab und an schon eine ähnliche Geisteshaltung wie bei einem gewissen Herrn Lamar durch, auch wenn ein Vergleich mit King Kendrick sicher noch zu früh kommt.

Den nüchternen Realismus unterlegt Def Jams Dion "No I.D." Wilson, ehemaliger Kanye-Mentor aus Chicago, zusammen mit DJ Dahi und Clams Casino mit einer spröden, brüchigen Produktion, die trotz der sehr unterschiedlichen Einflüsse ihrer Macher als stimmiger Organismus daher kommt. Aus psychedelischen Samples, ächzenden, verzerrten E-Gitarren-Basslines und verspielten Percussions brauen die drei eine brodelnde, düstere Mischung zusammen, der man anhört, dass hier nicht auf die mögliche Chartplatzierung geschielt, sondern mit viel Seele gearbeitet wurde.

Die ersten Erfolge mit viel Schampus und bewusstseinserweiternden Substanzen zu zelebrieren, gehört im Rap-Zirkus bei vielen Newcomern dazu, viel einzuwenden ist dagegen ja auch nicht. Dann hat man wenigstens neben dem Kater am Morgen danach auch gleich noch Stoff für die nächste "We-Made-It"-Hymne.

Staples scheint aber andere Prioritäten zu setzen. Der 22-Jährige kifft sich vor einem Auftritt nicht etwa die Birne weg, sondern sitzt viel eher gedankenverloren im Backstage-Bereich und sinniert über die Einsamkeit seiner neuen Berufung. "All these white folks chanting when I ask them: 'Where my niggas at?' / Going crazy, got me going crazy, I can't get with that / Wonder if they know I know they won't go where we kick it at?", heißt es auf "Lift Me Up".

Diese nachdenkliche Grundstimmung wirkt schon fast harmlos im Gegensatz zu dem, das Staples auf "Jump Off The Roof" vom Stapel lässt. Zwischen der Sehnsucht nach Erlösung erzählt er von Todesängsten, Drogensucht, zerstörerischen Beziehungen, Schmerz und Bessenheit. "Life way too hard, am I dreamin'? Highway to hell and I'm speedin' / One way to tell if I'm breathin' / On three, let's jump off the roof."

Auch "Summertime" bietet keinen Fluchtweg aus der Verzweiflung, obwohl Staples hier für einen kurzen Moment eine zärtlichere Seite durchscheinen lässt. Den Titeltrack könnte man schon fast als Liebeslied bezeichnen, soweit das Vince jedenfalls zulässt. "My feelings told me love is real, but feelings here can get you killed." Der monotone Singsang harmoniert perfekt mit den seltsam faszinierenden Gitarren-Akkorden und dem gedämpften, beruhigenden Synthie-Brummen von Clams Casino. Von Wärme, geschweige denn guter Laune, fehlt aber weiterhin jede Spur.

"The sheets and crosses turned to suits and ties / In black America, can you survive? […] No hopes and dreams, just leave us be, we leaning on the bible." Gegen Ende der etwas zu lang geratenen 60 Minuten Spielzeit zeigt Staples, welch großes Versprechen für die Zukunft in ihm steckt. Hier weicht die Vergangenheitsbewältigung nämlich politischen Statements, und schnell wird klar: Kendrick ist offenbar nicht der Einzige, der etwas zu sagen hat.

D'Angelo mokierte sich erst kürzlich angesichts des Erfolgs von Jeezy oder eben Young Thug über das mangelnde politische Bewusstsein in der Mainstream-Rap-Welt. Sieht aus, als habe Vince Staples das Potenzial, um D'Angelo noch richtig glücklich zu machen.

Trackliste

  1. 1. Ramona Park Legend Pt. 1
  2. 2. Lift Me Up
  3. 3. Norf Norf
  4. 4. Birds & Bees
  5. 5. Loca
  6. 6. Lemme Know
  7. 7. Dopeman
  8. 8. Jump Off The Roof
  9. 9. Se­ño­ri­ta
  10. 10. Summertime
  11. 11. Ramona Park Legend Pt. 2
  12. 12. 3230
  13. 13. Surf
  14. 14. Might Be Wrong
  15. 15. Get Paid
  16. 16. Street Punks
  17. 17. Hang N' Bang
  18. 18. C.N.B.
  19. 19. Like It Is
  20. 20. '06

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