laut.de-Kritik
Zeitlose Splitter des Punk-Urknalls.
Review von Christian KollaschFamilienduell und Punk passen zusammen wie Iggy Pop und T-Shirts, aber nehmen wir mal an, in dem braven Format käme die Frage nach den einflussreichsten Punk-Bands der Pionierzeit auf. Unter den Top-Antworten befänden sich sicherlich Wegbereiter wie The Stooges, The Sex Pistols, The Clash und The Ramones. Ob das Londoner Querdenker-Quartett Wire überhaupt in den Köpfen der Befragten rumspukt, bliebe fraglich.
Der Außenseiter-Status von Wire außerhalb der Szene lässt sich zumindest musikalisch nicht erklären. Mit ihrem phänomenalen Debütalbum "Pink Flag" sprengte die Band 1977 schon Genre-Grenzen des Punk auf, die zu dieser Zeit noch nicht mal gezogen waren und lieferte die Thesen für Post-Punk, Hardcore und Alternative Rock gleich mit. In diesem Jahr entsprach Großbritannien einer Petrischale für drei Akkorde, Nieten und Wut gegen das Establishment. Von den zahlreichen Bands, die sich nach dem Punk-Urknall gründeten, waren Wire eine der wenigen, die das Genre maßgeblich weiterentwickelten.
Mit ihrer Gründung im Jahr 1976 gehörten Wire zwar zu den Frühaufstehern, sie ließen sich aber bereits von anderen Bands wie Buzzcocks, Siouxsie & The Banshees und The Sex Pistols inspirieren. Ganz genau genommen zählten Wire also schon zu einer zweiten Welle von Punk-Formationen, die sich nach ihren Vorbildern gründeten. Spätestens nach dem Auftritt der Sex Pistols in der Talkshow von Bill Grundy im Dezember 1976 war der Punk bei der Masse angekommen und sorgte für nationale Empörung, stachelte aber auch zahlreiche Musiker zur Anti-Haltung an.
Der erste Schritt des Punk zu einer Modebewegung war getan und es folgten viele Sex-Pistols-Derivate, die den Style und den Sound der Originale kopierten. Nur wenige Bands besaßen eine starke eigene Identität - darunter The Clash, die 1977 ihr gleichnamiges Debütalbum veröffentlichten, und eben Wire mit "Pink Flag", das sie am Ende des Jahres nachlegten.
Die 21 Titel, die in 35 Minuten durch die Platte hetzen, wirken hier wie kleine Splitter, die die Punk-Explosion in alle Richtungen verstreut hatte. Geradlinige Anthems stehen Seite an Seite mit Hardcore-Blaupausen, Blues-Einlagen und Tango-Rhythmen. Wie divers dieser Trip ausfällt, zeigen schon die ersten beiden Songs von "Pink Flag". Das leicht verstörte "Reuters" leitet das Album mit dissonanten Gitarren ein, schleppt sich in apokalyptischer Atmosphäre über knapp drei Minuten und ist damit einer von drei Songs des Albums, die diese Marke überhaupt erreichen.
"Field Day For The Sundays" zappelt dagegen durch ein hibbeliges Stop-and-Go und hat nach 28 Sekunden die hässlichen Methoden der Boulevardpresse auseinandergenommen. Derartige Medien- und Gesellschaftskritik fällt in den Texten von Wire weitaus subtiler aus als in den Tiraden vieler zeitgenössischer Bands. So blickt "Ex Lion Tamer" ironisch auf den Fernsehkonsum der Masse: "Stay glued to your TV sets", proklamiert Sänger Colin Newman im Refrain und zieht in den Strophen Formate wie "Lone Ranger" durch den Kakao.
"Lowdown" nimmt anschließend deutlich das Tempo heraus und groovt mit einem knarzigen Blues-Riff durch das sinnentleerte England der Nachkriegszeit. Den Gitarristen Bruce Gilbert faszinierte in jungen Jahren vor allem der Blues der Rolling Stones, den er hier zu einer Post-Punk-Vorlage für die Zukunft verarbeitet. Allein dieser Song dürfte im Stammbaum vieler ikonischer Bands ganz oben stehen. Newmans kehlige Wutausbrüche hat sich Ian MacKaye zu Herzen genommen und zum Markenzeichen von Minor Threat und Fugazi gemacht. Die neurotischen Gitarren kehrten noch verstörter auf Slints Post-Rock-Meisterwerk "Spiderland" zurück.
Dass Wire von Anfang an aus jeder Schublade ausbrachen, erklärt die große künstlerische Herangehensweise an die Songs. Der Begriff Art-Punk fällt häufig in Zusammenhang mit Wire und ist trotz seiner Redundanz (Punk ist immer auch Kunst) gar nicht so unangebracht. Drei der vier Mitglieder besuchten zum Zeitpunkt von "Pink Flag" Kunsthochschulen und vor allem Gilbert verstand Wire nicht bloß als Band, sondern als übergreifendes Kunstprojekt, wie es schon bei The Velvet Underground und Andy Warhols The Factory stattfand.
Verkopft oder aufgeblasen wirkt "Pink Flag" dadurch aber keinesfalls. Die Songs gestalten sich dafür trotz ihrer knappen Laufzeit so heterogen, dass jeder einzelne das Potential entwickelt, aus dem Gesamtwerk auszubrechen. Wire verpassen einer einminütigen Abrissbirne wie "It's So Obvious" so viel Charakter wie dem Titeltrack, der über fast vier Minuten erst einen Teppich aus Zerren webt, um ihn dann im hektischen Finale in der Luft zu zerreißen.
Dann wäre da noch "Mannequin", auf dem Wire eingängige Harmonien, eine markante Bassline, zuckrigen Begleitgesang und Fußballchöre zu einem Feel-Good-Hit zusammenbasteln, der mit Sicherheit weniger Airplay bekommen hat als verdient. Das mag vielleicht daran liegen, dass Newman hier keine Frau anhimmelt, sondern sie wegen ihrer Oberflächlichkeit ungehobelt in den Wind schießt.
"Pink Flag" entwickelte sich als einzigartiger Querschläger in einem Genre, das noch nicht einmal existierte, zu einer Goldgrube für spätere Generationen. Vielleicht blieb der ganz große Erfolg aus, weil Wire nicht so drastisch wie die Sex Pistols waren. Vielleicht auch, weil ein großer Hit wie "London Calling" ausblieb. Ganz sicher aber besaß kaum eine andere Punk-Band damals so viel Kreativität und Raffinesse wie Wire. Schließlich käme auch der Nachfolger "Chairs Missing" mit dem größeren Fokus auf Synthesizer als Meilenstein infrage.
"Pink Flag" markiert dafür die Geburtsstunde zahlreicher Genres rund um Punk und steht auch für sich alleine als zeitloses Meisterwerk, auf dem die große Experimentierfreude der Band das Erscheinungsjahr verschleiert. Gilbert gilt als großer Science-Fiction-Fan und hat zusammen mit seinen Bandkollegen 1977 bereits in der Zukunft gelebt, als Werner Schulze-Erdels Frisur schon out war.
In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.
7 Kommentare mit 2 Antworten
"Gilbert gilt als großer Science-Fiction-Fan und hat zusammen mit seinen Bandkollegen 1977 bereits in der Zukunft gelebt, als Werner Schulze-Erdels Frisur schon out war."
Hammer Abschlusssatz! Einrahmen und übers Albumcover hängen!
genau, und in weiteren Renzensionen noch Walter Sparbier und Kai Ebel einbauen. Wow.
Endlich mal wieder ein Stein, den ich ohne zu zögern unterschreiben kann, auch wenn ich 154 als den größten Wurf dieser Band sehe. Wichtiger für die Entwicklung des (Post) Punk war Pink Flag dann allerdings schon.
Revolutionäre Platte. Bis heute berufen sich Bands auf den Pioniergeist von "Pink Flag". Von den Debütalben der Sex Pistols und The Clash kann man das sicherlich nicht behaupten.
Vom Debütalbum der Sex Pistols allemal, denn mehr gab es nicht.
Three Girl Rumba haben Elastica mal geklaut....bei "Connection"
Dieser Kommentar wurde vor 4 Jahren durch den Autor entfernt.
War im Grunde noch Punk mit ein paar zukunftsorientierten Ansätzen. Der Fokus liegt aber definitiv auf Punk. Daher nicht unbedingt mein Ding. "Chairs Missing" halte ich für wichtiger, da strukturell der Indie-Rock auf dieser Platte größtenteils vorweggenommen wurde.