laut.de-Kritik

Eine dröhnende wie belastende Geisterbahnfahrt.

Review von

Ein Elefant also, als Albumtitel ganz gut gewählt. Das große Säugetier steht tatsächlich seit den Missbrauchsvorwürfen gegen Win Butler im Raum und obwohl man ja nur über die Musik schreiben möchte, bleibt doch ein komisches Gefühl. Eines, das man gerade mit Arcade Fire niemals in Verbindung gebracht hätte. Das leuchtende Aushängeschild der Indie-Szene, ihr 2004er Debüt "Funeral" eine massive und stilprägende Standortbestimmung.

Aus der damals schon fast legendären Montreal-Szene brachten es schon vorher Bands zu gewissem Ruhm, doch keine klang so ambitioniert und heimste folgerichtig den Welterfolg ein. Und niemand nahm es dem Quartett übel, weil es wie der Beat der Obama-Jahre klang: Euphorisch, vorwärts blickend, hip. Auch als sie längst im Mainstream angekommen waren, blieben Arcade Fire im Gegensatz zu Coldplay weiterhin kredibel für Menschen, die in Prenzelberg gerne den Hipster-Lifestyle nach außen tragen.

Es fühlt sich mittlerweile so an, als ob man als Rezensent das moralische Dilemma zwischen komplett vernebelter Fantreue, die alles ausblendet, und Shitstorm-Mob ausbaden muss. Als ob einen sowas als Musikfan nicht selbst in einen moralischen Konflikt stößt. "Shut Up And Play The Hits!", rief Win Butler damals mit Augenzwinkern beim Abschiedskonzert von LCD Soundsystem seinem Kumpel James Murphy zu. Und irgendwie höre ich diesen Ausruf auch hier, allerdings mit deutlich ernsterem Unterton: Halt einfach deine Fresse und schreib die Rezension. Verdrängen nennt man so etwas, umgangssprachlich im Englischen als "Pink Elephant Problem" bekannt. Je mehr man etwas verdrängen möchte, desto präsenter wird es am Schluss.

Das Album beginnt wie gewohnt bombastisch, dröhnend und bedeutungsvoll. Ein langer, anschwellender Sirenen-Sound leitet das siebte Album ein. Es bleibt eine Ahnung, dass nun eine Geisterbahnfahrt durch die Seele der Band stattfindet. Der zurückhaltende Titeltrack "Pink Elephant" klingt gebrochen, zerstört und nach tiefem Schmerz. Kein aufrüttelndes "Wake Up", vielmehr klingt die Stimme von Win Butler nachdenklich und besingt eine dunkle Phase. Freunde haben sich von ihm abgewendet, das Fanlager ist gespalten, nur seine Frau Régine Chassagne hält ihm in dieser schweren Zeit die Treue.

Das ist jedenfalls das Narrativ, das sich Butler für "Pink Elephant" wünscht. Doch er kann noch so skeptisch grübeln, die Musik ist bisher einfach wunderschön. Genau wie das Liebesbekenntnis "Year Of The Snake", das noch einmal alle Ups and Downs der Beziehung rekapituliert: "It's the season of change / And if you feel strange / it's probably good" transformiert die negativen Momente der Ehe in etwas Schönes. Auch hier berührt die Bewunderung dafür, wie das Paar den Tiefpunkt der gemeinsamen Beziehung überwunden zu haben scheint, ohne die Kritik, die dahinter ein berechnendes Manöver sieht, völlig zu verdrängen. Ohne diese Schizophrenie lässt sich dieses Album nicht hören.

Als belastendes Meisterwerk bezeichnete Kollege Leier letztes Jahr das zugleich großartige wie problematische "Ugly" von Slowthai, ein ähnlicher Fall. Es war zu dem Zeitpunkt nicht klar, wie das Gerichtsverfahren später ausgeht. Auch hier stellte sich die Frage, ob wir einer geschundenen Seele oder einem toxischen Mann zuhören. Ein Arcade-Fire-Meisterwerk, das deuten die gerade mal soliden Electro-Songs "Circle Of Trust" und "Alien Nation" an, liegt mit "Pink Elephant" nicht vor. Nach dem zurückgenommenen Indie-Folk gibt es also doch wieder den breitbeinigen New-Wave-Sound - ohne größere Spannungskurve, dafür mit viel Pathos-Feeling von U2-Intimus Daniel Lanois produziert.

Die Gitarre ist verschwunden, dafür regiert der Synthesizer wie auf "Reflektor" oder "Everything Now". Beides Alben, die das Fanlager schon vor den Anschuldigungen in zwei Lager teilten. Es zog in den Zehnerjahren verstärkt ein Synth-Pop-Vibe in das Folk-Gerüst der Kanadier ein. "I Love Her Shadow", abermals ein Liebesschwur, stampft im EDM-Rhythmus vor sich hin und klingt wie der feinsinnige Folktronic-Künstler Four Tet auf Steroiden oder die Art-Rocker von Everything, Everything in blöd. In Sachen Indie-Pop ist diese Band immer noch eine Bank, bedauerlicherweise halten sie sich für eine gleichermaßen gute Electro-Pop-Band.

Auch die Interludes wie "Beyond Salvation" oder "She Cries Diamond Rain" bleiben komplett unnötiges Füllmaterial. All das Getöse und die Störgeräusche scheinen die Band zu belasten. Die einst so selbstbewusste Gruppe wirkt seltsam fahrig, ganz so, als hätten sie alles lieber gemacht, als dieses Album aufzunehmen. Bleibt nur positiv anzumerken, dass selbst dieses bisher schlechteste Arcade-Fire-Album immer noch als solider Indie-Pop-Durchschnitt taugt. Eine Band, die sich in kreativer Erschöpfung verliert, ein Sänger, der in Verdrängung flüchtet – und ein Album, das mehr Fragen aufwirft, als es beantworten will. Mal sehen, ob die Fans auch noch willens sind, den Elefanten von der Bühne zu schieben.

Trackliste

  1. 1. Open Your Heart Or Die Trying
  2. 2. Pink Elephant
  3. 3. Year Of The Snake
  4. 4. Circle Of Trust
  5. 5. Alien Nation
  6. 6. Beyond Salvation
  7. 7. Ride Or Die
  8. 8. I Love Her Shadow
  9. 9. She Cries Diamond Rain
  10. 10. Stuck In My Head

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2 Kommentare mit 8 Antworten

  • Vor 2 Tagen

    Ernsthaft? Nach drei Jahren in denen alle Vorwürfe juristisch genau gar nichts ergaben damit nochmal starten? Gibt es da eigentlich irgendein anerkanntes Verfallsdatum oder wird das auch beim nächsten Album wieder ausgepackt? Naja, vielleicht hat die KI ja bis dahin übernommen, da kann man vermutlich mehr Fairness erwarten.

  • Vor einem Tag

    Das ganze Album klingt für mich wie übrig gebliebenes Material aus der „Reflektor“-Phase. Es kommt meiner Meinung nach zurecht nicht besonders gut weg, aber die Kritik finde ich echt schlecht geschrieben. Erinnert mich an die ersten Laut-Reviews aus 2000. Da ist man von Rinkster eigentlich Besseres gewohnt.

    • Vor 20 Stunden

      Finde nach wie vor, "Reflektor" ist ihre beste Platte. Aber ja, klingt nach Resten aus der Zeit. Nix, was unbedingt veröffentlicht werden muss.

    • Vor 12 Stunden

      Ja Mann, „Reflektor“ ist auch meine Lieblingsplatte von Arcade Fire, dicht gefolgt von „The Suburbs“.
      3-4 interessante Stücke gibt’s hier aber auch, vor allem das new-Orderige „Circle Of Trust“ hat eine gute Atmosphäre, finde ich.

    • Vor 12 Stunden

      Der Rinkster hat aktuell manchmal so Tage... da gehts irgendwie mehr um Moral und weniger um Musik.

    • Vor einer Stunde

      Zum Glück gibt es nur den einen Weg, Musik korrekt zu rezipieren und entsprechend können wir hier feststellen, dass die Rezension sich dem Album einfach vom falschen Blickwinkel nähert und außerdem nicht objektiv genug ist. Wäre ja ein ganz schönes Dilemma wenn das nicht so wäre.

    • Vor einer Stunde

      Dieser Kommentar wurde vor einer Stunde durch den Autor entfernt.

    • Vor einer Stunde

      Dieser Kommentar wurde vor 51 Minuten durch den Autor entfernt.