laut.de-Kritik

Angekommen im Herzen der Popmusik.

Review von

Stets auf der Suche nach der großen Kunst im teils sehr engstirnigen Popzirkus, verschreiben sich Arcade Fire vor allem der Kunst des konstanten Neuerfindens. So findet sich sogar für scheinbar profanes Marketing ein Platz im Gesamtkunstwerk der (Wahl-)Kanadier, die Win Butler zufolge auch hier ihre Kreativität ausleben. Aktionen wie Spontankonzerte unter neuem Namen oder der 20-minütige Kurzfilm "Here Come The Night Time" von Roman Coppola, der mit unzähligen prominenten Arcade Fire-Fans aufwartet, gehören zu den neuesten Ventilen.

Nicht nur ein enormer, seit Monaten lancierter Aufwand zur Bewerbung der vierten Platte "Reflektor" zeugt von deren enormer Bedeutung. Das über siebzig Minuten starke Doppelalbum beansprucht in Länge und Vielseitigkeit einen wichtigen Platz im bisherigen Werk Arcade Fires. Gemeinsam mit LCD Soundsystems James Murphy erarbeiten sie den bisher zugänglichsten Sound in der 11-jährigen Geschichte der Band.

Dabei fällt sofort die Orientierung an großen Helden der künstlerisch anspruchsvollen Popmusik auf. Allem voran ist es Win Butlers Stimme, die sich als wandelbarer denn je herausstellt. Natürlich ist David Bowie – als bekanntester Bewunderer der Band und für "Reflektor" gern gesehener Gast im Aufnahmestudio – hier Dreh- und Angelpunkt. Vor allem "Joan Of Arc" umgibt stimmlich wie stilistisch ein bowiesker Geist, der an vielen anderen Punkten aufgegriffen wird.

Den großflächigen synthiegetriebenen Art-Pop reichern Arcade Fire zuweilen mit knautischigem Bluesrock an, der sich in seiner direktesten Form in "Normal People" zeigt. Mit einer an Mick Jagger erinnernden Intonation, gibt Win Butler den exaltierten Frontman zwischen Sex und Affektiertheit. Nach einem Intro, das dem Track seinen scheinbaren Livecharakter gibt, ergießt sich vier Minuten geradlinige Rockmusik in die Ohren des vorher allzu Genre verwirrten Hörers.

Wo sich noch "The Suburbs" durch ein strenges Konzept auszeichnete, ist "Reflektor" ein bunter Garten der Pophistorie. Für ihr erstes genuines Popalbum nehmen Arcade Fire einfach jedes mögliche Popalbum auf. Das passiert keineswegs aus fehlender Kompromissbereitschaft, sondern orientiert sich an Art und Weise des Populären. Hier laufen bewusste sowie unbewusste Einflüsse zusammen und vermischen sich permanent mit anderen Stilen und Genres. Kreative Aneignung ist die eigentliche Leistung.

Nicht von ungefähr mag Will Butlers Basslauf zu Beginn von "We Exist" an Michael Jacksons "Thriller" erinnern, eine der größten Singles überhaupt. Auf beeindruckende Weise verbinden Arcade Fire ungemein unterschiedliche Strömungen in einem Doppelalbum, ohne dabei allzu weit von den Grundfesten ihres Sounds abzudriften – dieser liegt in Form von "You Already Know" als Exempel bereit.

Auch dem Sinn fürs Abseitige, der sich vor allem im Debüt "Funeral" fand, huldigen die Montrealer im zweiten Teil der Platte. Melancholie und Minimalismus tauchen die fast schon überdrehte erste Hälfte mit "Here Comes The Night Time II" und "Supersymmetry" in dunkleres Licht. Denn auch The Cure sollen die Band bei der Aufnahme beeinflusst haben, verriet Win Butler in einem der rar gesäten Interviews.

Betrachtet man öffentliche Wahrnehmung, Marketingaufwand und weite Strecken des Albums, sind Arcade Fire offensichtlich im Herzen der Popmusik angekommen. Doch nach wie vor sind die acht Musiker aus Montreal Künstler, die sich ihrer Handlungen sehr bewusst sind und keineswegs mit offenen Augen in Seichtigkeit abrutschen.

Zwischen Popappeal samt DFA-Sound und dem alten Hang zum tiefgründigen musikalischen Ausdruck wandelt das vierte (Kunst-)Werk Arcade Fires. Ihr Collagestil im Poprahmen, den seit den Talking Heads nur wenige derart gekonnt einsetzen, verliert sich nur selten in sich selbst und versöhnt melancholische "Funeral"-Fans mit gitarrenaffinen "The Suburbs"-Liebhabern.

Trackliste

  1. 1. CD 1
  2. 2. Reflektor
  3. 3. We Exist
  4. 4. Flashbulb Eyes
  5. 5. Here Comes The Night Time
  6. 6. Normal Person
  7. 7. You Already Know
  8. 8. Joan Of Arc
  9. 9. CD 2
  10. 10. Here Comes The Night Time II
  11. 11. Awful Sound (Oh Eurydice)
  12. 12. It's Never Over (Oh Orpheus)
  13. 13. Porno
  14. 14. Afterlife
  15. 15. Supersymmetry

Videos

Video Video wird geladen ...

Weiterlesen

LAUT.DE-PORTRÄT Arcade Fire

Wer sich im Musikbusiness bewegt und David Bowie als Fürsprecher gewinnt, hat schon halb gewonnen. Dies gelingt der kanadischen Band Arcade Fire im Jahr …

15 Kommentare mit 8 Antworten

  • Vor 11 Jahren

    Mit Review und Wertung stimme ich überein. Erinnert wirklich stark an die Talking Heads, ist ein rundes Ding, teilweise ist mir der Produzenteneinfluss aber zu stark, bewegt sich schon alles seeeehr in popigen Gefilden.

  • Vor 11 Jahren

    Ich bin etwas überrascht. Laut.de geht den Hype nicht mit? Ich bin sicher von ner 5/5 ausgegangen (abgesehen von der Qualität der Platte).

    Letztendlich stimme ich hier sogar überein. Ne 4/5 nicht mehr aber auch nicht weniger. Nicht die angekündigte Neuerfindung der Musik aber eine gute Platte die wahrscheinlich vielen eine Freunde machen wird. Ich bin mir sicher dass auch 2-3 Songs dabei sind die ich mir ab und zu mal anhören werde...

    • Vor 11 Jahren

      Welchen Hype? 4/5 ist ziemlicher Konsens.

    • Vor 11 Jahren

      Du willst doch nicht bestreiten dass es einen unglaublichen Hype um die neue Platte gibt. Wenn du genau liest schreibe ich dass laut.de den zu meiner großen Überraschung nicht mitgeh

    • Vor 11 Jahren

      Also, an den Kritiker-Stimmen lässt sich kein Hype ablesen. Ich hab' zwar von der Marketing-Kampagne zu dem Album gehört, aber zu einem Hype gehört doch auch eine überschwängliche Rezeption, oder? Die ist bis jetzt größtenteils ausgeblieben, zumindest für AF-Verhältnisse.

    • Vor 11 Jahren

      Nein das gehört mMn nicht zwangläufig dazu. Alleine der große Rummel ist doch schon ein Hype. Dass das Album dann doch nicht so gut ist hat damit wenig zu tun, war ja bei Daft Punk auch so
      Und es gibt durchaus eineige überschwängliche Rezensionen; siehe focus, musikexpress, mit Abstrichen Rolling Stone

    • Vor 11 Jahren

      Pitchfork zückt sogar eine 9,3 (wie auch immer das berechnet werden soll).

  • Vor 11 Jahren

    Als bekannt wurde dass James Murphy mitproduziert, war ich aus dem Haeuschen. Sind doch er und Arcade Fire einer meiner Lieblingsinterpreten. Als dann der Song Reflektor kam, war ich vom neuen Disco /African-Funk nicht abgeneigt. Nun habe ich das Album seit Freitag bestimmt an die 6 mal gehoert. Und was soll ich sagen. Ich bin echt enttaeuscht. Bis auf 1,2 Nummern nur belangloses Zeug dabei. Viele Songs zudem arg in die Laenge gezogen. Es bringt nichts sich einen guten Produzenten zu suchen, auf einen neuen Sound zu setzen, wenn man aber keine gescheiten Songs mitbringt. Nach Like Clockwork die zweite enttaeuschung von mir.
    4/10
    5/10 da Arcade Fire sich etwas getraut haben. Waere dies das zweite Disco Album, gaebe es den einen Gnadenpunkt nicht.

    • Vor 11 Jahren

      ...Like Clockwork ist imo das beste Album der Band.
      und Reflektor das zweibeste von Arcade Fire. Wie Meinungen doch auseinanderdriften können. Finde nur 1,2 Nummern belanglos. Scheint bei manchen eher ein Grower zu sein, außer man hört ständig Talking Heads, Berlin Bowie und LCD Soundsystem so wie ich vor dem Release.