laut.de-Kritik
Diese Platte will gespürt werden.
Review von Elias RaatzAn einem kalten Tag im Jahr 1994 spuckte das Leben Manuel Bittorf aka Betterov auf einem strukturschwachen Fleckchen Erde am südwestlichen Rand der ehemaligen DDR aus. Vor knapp zehn Jahren entlief er seinem Neunhundert-Seelen-Zuhause im thüringischen Hinterland, um in Berlin von einer besseren Zukunft zu träumen. Doch den Ort des eigenen Aufwachsens vergisst man nicht, selbst wenn man ihn hinter sich lässt. Für Betterov ist es ein Ort zwischen Stille und Misstrauen, zwischen kleinem Kirchturm und dem großen Schatten der DDR-Vergangenheit. Sein Heimat-Dorf erinnert ihn mit Nachdruck daran, wer er ist, und verhindert mit derselben Härte, dass er es jemals ganz sein kann.
"Große Kunst" handelt von genau diesem Spannungsfeld des Aufwachsens. Von Herkunft als Wunde und Halt. Von Familie als Last und Prägung. Vom Versuch, sich von all dem zu lösen – ohne es zu verleugnen. Musikalisch bewegt sich Betterov irgendwo zwischen Post-Punk und Indie-Pop-Rock, aber eigentlich macht er etwas viel Intimeres: Er erzählt. Und das so klar, so zart, so kompromisslos und so ehrlich, dass jedes Lied eine berührende Geschichte wird, dass jeder Refrain zum Mit- und Einfühlen einlädt. Wahrlich hält "Große Kunst", was der Titel auch verspricht – ein außergewöhnlich starkes Album.
Eine "Ouvertüre" eröffnet das Album vorsichtig, mit Streichern wie aus einer melancholischen Erinnerung, die nicht schmerzt, aber zieht. Ein zarter Hinweis: Es wird ernst, es wird persönlich und es wird schön.
"Alles Nur Ein Film" geht direkt mitten hinein: "Ich seh' mich im Spiegel, zerschlag' mein Gesicht." Identitätskrise, Selbstbild, das Ringen mit sich selbst, doch statt Drama gibt es Klarheit. Betterov beschreibt keine Gefühle, er zeigt sie – und hat die Hoffnung niemals aufgegeben: "Manchmal stell' ich mir vor, mein Leben ist nur ein Film. Ich weiß grad nicht wohin, aber am Ende ergibt alles Sinn. Ein Happy End."
"Du Hast In Mein Herz Gemalt" bringt Tempo, ein punkig-treibender Indie-Song mit rockigem Balladen-Einschlag. Die Stimme ist dabei keine, die jedem gefallen muss – und genau das macht sie so eindringlich. Sie kratzt, weil es die Geschichten ebenso tun.
In "So High" geht es um Drogen, Rausch und das Ausweichen vor sich selbst. Der schwächste Song des Albums, der musikalisch zwar stark, jedoch auch vertraut nach Indie-Rock-Ballade aus dem Lehrbuch klingt. Textlich ist der Track solide, die Thematik wurde aber schon tausendmal durchgespielt – ob bei Kraftklub ("Chemie Chemie Ya"), bei Provinz ("Augen sind rot") oder schon vor über 50 Jahren bei Juliane Werding ("Der Tag, als Conny Kramer starb").
"Papa Fuhr Immer Einen Großen LKW" ist dafür eines dieser Lieder, die bleiben. Eingebettet zwischen zwei Streicher-Intermezzi davor und danach wirkt es wie das Herzstück des Albums. Eine Hommage an den Vater, an Arbeiterhände und an Klassenunterschiede, die selten benannt, aber jeden Tag gelebt werden. Der stärkste Song des Albums, wenn nicht gar einer der stärksten deutschen Songs des Jahres – erzählt ohne Pathos und ohne Romantisierung, nur mit radikaler Ehrlichkeit.
Der Titeltrack "Große Kunst" weitet den Blick auf das gesellschaftliche Panorama: Provinz gegen Kreativviertel, Kreisliga-Fußball gegen Arthouse-Kino, Grillkohle gegen Matcha-Latte, Kirmes gegen Lesekreis, Schweigen gegen Dichten. Betterov kennt beide Seiten – und er weiß, wie dünn die Linie dazwischen sein kann.
Der erzählerische Kern des Albums manifestiert sich in der Dreifach-Sequenz "17. Juli 1989", "18. Juli 1989" und "Sag Nicht Deinen Namen". Hier geht es um die Republikflucht seines Vaters, um Stasi-Verhöre, um Akten, um Konsequenzen, um Angst, um Schweigen. Um Geschichte, die sich bis in die eigene Geburt hinein fortsetzt, und um ein Generationen-übergreifendes Trauma. Das ist nicht emotional, das ist existenziell, schwer, gar erdrückend, aber gleichzeitig von großer Zärtlichkeit für die, die vorher waren. Diese Songs zeigen schlichtweg das Fundament der Künstler-Persona Betterov: warum sie klingt wie sie klingt und singt wie sie singt.
Anschließend zieht der nächste Song die Linie weiter zur Gegenwart: "Mein Leben verlief niemals in geraden Linien, es ging immer bergauf in Serpentinen." Doch etwas bleibt, etwas hält, etwas trägt, etwas begleitet jeden Tag: "Immer Die Musik". Mit dem "Mücken Song" folgt eine traurige, doch wunderschöne Ballade über Abschied, Verlust, Trennung und den Versuch, nicht daran zu zerbrechen. Sie lädt ein zum Tanzen mit nassen Augen – und manchmal ist es genau das, was man braucht, wenn das Leben wieder einmal einsam ist.
"Hier Wache Ich" wird vom letzten Streicher-Intermezzo eingeführt, bevor "In Meinem Zimmer Spielen Sich Dramen Ab" das Album mit einem tanzbaren, fast euphorisch-punkigen Ausbruch beendet. Ein Finale, das nicht löst, sondern leben lässt. Die Komposition aller Tracks wirkt wohldurchdacht und liefert durchgehend Abwechslung – der dramaturgisch gelungene Aufbau wird durch einen abschließenden "Epilog" schön gerahmt.
Diese Platte will nicht nur verstanden, sondern gespürt werden. "Große Kunst" ist ein selten ehrliches, musikalisch kluges, textlich herausragendes Album, das Herkunft weder verklärt noch verrät und persönliche Geschichte stimmig mit gesellschaftlichem Bewusstsein verbindet, ohne jemals verkopft zu wirken. Betterov erzählt so, dass man nicht weghören kann, er bringt Schmerz, Heimat und Hoffnung in bewundernswerter Klarheit zusammen. Das hier ist keine Pose, kein Projekt, kein Trend, sondern Leben.


4 Kommentare mit 2 Antworten
Das ist mal ne Ansage. Mein erster Kurzeindruck war zu viel gewollt, zu verschnörkelt aber werds mir definitiv noch öfter reintun. 5/5 vom Gefühl her, welches ja laut Text Prio hat, zu viel des Guten.
Berührt und beschäftigt. 4/5 insgesamt, teilweise 6/5.
Fair enough
Deutsch-Pop auf höchstem Niveau. Ganz großes Kino. Definitiv ne 5/5.
Klingt als würde der Uwe aus der Buchhaltung auf Valium singen, während er sein Mettbrötchen mampft.