laut.de-Kritik
Ein Bruch mit den Konventionen elektronischer Tanzmusik.
Review von Maximilian Fritz"Rhythmus war für mich immer der Teil der Musik, der sie zeitlich datiert, im Guten wie im Schlechten. Er gibt die Ära preis, und ist der ersetzbare Teil in Coverversionen. Menschen werden von Akkordfolgen oder Tonfiguren gefesselt, die sind nämlich zeitlos. Wir machen unsere Musik auf eine reduktive Art und Weise. Viel, was wir auf "Music Has The Right To Children" gemacht haben, war ein Beseitigungsprozess: Wir nahmen die Sachen weg, die uns bei anderen Künstlern nervten, bis das übrig gebliebene Skelett uns nicht mehr störte. Das ließ den Sound zu einer Art Erscheinung werden, die nicht so ganz real war."
Im Grunde beschreibt Mike Sandison, seines Zeichens die eine Hälfte des Brüder-Duos Boards Of Canada, schon zur Genüge, was "Music Has The Right To Children" zu einem wahrhaft zeitlosen Stück Musikgeschichte macht. Auch 20 Jahre nach der Veröffentlichung klingt das erste vollwertige Studioalbum der schottischen Combo derart unverbraucht, dass es beinahe so gespenstisch wie das morbide Cover wirkt.
Das rührt wohl vor allem daher, dass sich die beiden im Produktionsprozess radikal einschränkten: Bis auf ein paar Synthesizer, die ihre unverkennbare Klangfarbe praktisch bis zu "Tomorrow's Harvest" (2013) behalten haben, merkwürdigen Samples aus Kinderstimmen sowie Tierlauten und einer künstlich verrohten Klangästhetik gibt es auf den ersten Blick gar nicht so viel zu entdecken.
Das Primat der freiwilligen Reduktion und die unweigerlich damit einhergehende Verlagerung auf die Metaebene proklamieren die Gebrüder auch noch 2005 gegenüber dem Groove Magazin: "Wenn man ein einfaches Setup wie einen Mono-Synthesizer und eine Drummachine hat, sind die Sachen, die du damit machen kannst, begrenzt, aber das macht dich auch kreativer im Umgang damit". Eine konkrete Vision von bedeutsamer Musik.
Das Album selbst, durch seinen Minimalismus und unverwüstlich avantgardistischen Geist beinahe zwangsläufig auf Warp beheimatet, bricht zunächst mit so ziemlich allen Konventionen elektronischer Tanzmusik um die Jahrtausendwende: Weder klingen die Produktionen glatt, noch nehmen sie jemals ein nennenswertes Tempo auf, ganz im Gegenteil: Nach dem zwischen traumhaft und bedrohlich schwankenden Einstieg "Wildlife Analysis" zuckelt "An Eagle In Your Mind" demonstrativ langsam und unstet vor sich hin.
Schon diese beiden Tracks stellen ein Leitmotiv heraus: In allen möglichen Kontexten thematisieren Boards Of Canada Flora und Fauna, das Ursprüngliche und sonstige psychedelische Fixpunkte. Sie dienen als Inspiration, Sehnsuchtsort und Regulativ. Nicht umsonst benannte man sich nach den Dokumentarfilmen des National Film Boards Of Canada, die oftmals die Natur thematisierten und mit ihrem Intro den Sound des Duos gewissermaßen vordefinierten.
Konkret heißt das für die 16 Tracks auf "Music Has The Right To Children": Der Synthesizer und seine ätherischen Klänge dominieren, die Beatstruktur stellt sich hinten an. Schon an dritter Stelle steht erneut ein Ambient-Interlude, das auf ein kindliches, höchst unangenehmes "I Love You"-Sample zurückgreift. Auf "Telephasic Workshop" regieren über sechs Minuten Breakbeats und abgehackte Sprachfetzen, "Triangles & Rhombuses" vermittelt in knapp zwei Minuten eine Spur von Optimismus.
Hier fällt eine weitere Vorliebe des Brüderpaars ins Auge: Zahlen, Geometrie und mathematische Formeln finden immer wieder ihren Weg in die Stücke. Auf "Music Has The Right To Children" verhält es sich damit allerdings unbestimmter als beim direkten Nachfolger "Geogaddi", der nicht nur wegen seiner 66 Minuten und 6 Sekunden Spielzeit uferlose Diskussionen und Theorien unter den Fans aufbranden ließ.
Ihren unbeirrbar gemächlichen Trott, der sich entgegen des damaligen Zeitgeists unablässig näher an Instrumental-Hip Hop als an Techno, House oder Jungle orientiert, ziehen die Gebrüder Sandison konsequent bis zum Ende des Albums durch. Die Formel erweitert sich durch die bereits angesprochenen kurzen Einschübe, die sich wie "Kaini Industries" als wohltuende Synth-Auflockerung entpuppen können, aber auch in der Lage sind, den Hörer noch stärker zu entfremden.
Dem mulmigen Gefühl, das sich nach und nach einstellt, wirkt an zehnter Stelle "Roygbiv" entgegen, das wohl bekannteste Stück des Albums. Für BOC-Verhältnisse hat man es hier mit einem richtigen Banger zu tun: Eine ungewöhnlich klare, motivierende Synth-Line trifft auf die ikonischen Kinderstimmen, weitere Synths erheben den Track in gar euphorische Sphären.
"Rue The Whirl" geht anschließend postwendend den umgekehrten Weg und mutet beinahe wie eine überdrehte, dennoch repetitive MPC-Übung an. Spätestens im jammigen "Aquarius" schimmert der Bandkontext des Brüderpaars durch. Über einem flockigen Stoner-Beat erklingen in bester The Orb-Manier akustische wie elektronische Instrumente. Diese Wohlfühloase komplettieren Samples aus der Sesamstraße.
Sucht man nach einer Blaupause für Boards Of Canadas musikalischen Ansatz, so wird man am ehesten in "Pete Standing Alone" fündig. Dieses hätte wohl auf jedem anderen Album des Duos seinen Platz gefunden und erklärt die inflationären Verweise auf David Lynchs Filme, die Musikjournalisten stets aufs Neue reflexartig abfeuern, in nur sechs Minuten wie von selbst.
"Open The Light" sorgt mit zyklischen Ambient-Kaskadenfür den epischsten Moment des Albums, "Happy Cycling" beschließt "Music Has The Right To Children" auf einer nachdenklichen, düsteren und unwirtlichen Note. Auch aus diesem Zwiespalt speist sich die Begeisterung für diese faszinierende Platte: Die Stimmung pendelt über die komplette Spielzeit zwischen den Polen angsteinflößend und fröhlich. Dazwischen spielen sich Momente banger Ungewissheit ab.
Marcus und Mike Sandison sahen sich zu keinem Zeitpunkt ihrer Karriere als Dance-Producer. Im Grunde haben sich beide ihr eigenes, von Konventionen und Trends restlos befreites Genre geschaffen, das ein ganzes Universum an Symbolen, Anspielungen und Psychedelia beinhaltet. Das erreichten sie ironischerweise mit einem extrem limitierten Setup, einem unfassbar weitläufigen Fundus an alten VHS-Kassetten, sonstigen Tonträgern und selbst hergestellten Aufnahmen, die mitunter bis zur Unkenntlichkeit verfremdet sind, sowie einem in sich ruhenden, öffentlichkeitsscheuen Naturell.
Bis heute zeigen sich die beiden höchst ungern in der Öffentlichkeit und meiden das Rampenlicht. Zwischen den unregelmäßigen Releases hört man so gut wie gar nichts von den Schotten, die das Landleben der Großstadt natürlich konsequent vorziehen. Und gerade jenes Leben in einer von gesellschaftlichen Strömungen, Moden und Hysterien weitestgehend unberührten Gegend trug wohl dazu bei, aus "Music Has The Right To Children" das zu machen, was es bis heute ist: ein zeitloses Album.
In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.
5 Kommentare mit 7 Antworten
Yes, einfach yes!
Finde ja schon, dass man der Platte ihre Zeit ein wenig anhört. Vom Bedeutungsgrad für die IDM-Szene aber absolut berechtigter Stein, obwohl ich persönlich Tomorrow's Harvest" am besten finde.
Ja, und ich bin jetzt nicht soo super bewandert mit Electro-Produktionen der 90er, das Gefühl beschleicht mich aber bei gut 90% der entsprechenden Platten meiner Sammlung. Ganz egal übrigens, ob die vorwiegend mit digitalen oder analogen Synthesizern gearbeitet haben - bei ersteren aber nochmal spürbar drastischer, imo.
Analog, denke ich. Hat auch eine gewisse Wärme vom Klang, die ich in aktuellen Produktionen im elektronischen Bereich vermisse. Kaitlyn Aurelia Smith wäre als Ausnahme zu nennen, aber die nutzt ausschließlich Synthesizer aus den 70ern.
Korrigiere. Buchla 100 nutzt die sogar als Hauptinstrument. Das war das erste Modell aus den 60ern.
Ist das eine Rereview? Ich meine, das Album hätte schon eine Rezi gehabt.
Zum Album muss man nicht viel sagen. Klassiker des IDM, in einem Atemzug zu nennen mit "SAW 85-92" und "Tri Repetae".
Mein Lieblings-Board
Da bin ich jetzt aber positiv überrascht!
Bin über den Tipp eines befreundeten Drummers 2005 mit "The Campfire Headphase" eingestiegen und hab die Diskographie von hinten aufgerollt, seitdem nenne ich sie im erweiterten Sozialkreis öfters mal als "Geheimtipp" des IDM- (ausnehmend dämliche Genrebezeichnung übrigens) bzw. Electro-Segments, wobei du szeneaffineren Menschen natürlich damit nie kommen brauchtest. Den Geheimtipp-Status haben die Boards m.E. schon seit langer Zeit übern Genre-Papptellerrand hinaus überwunden.
Ja, versuche meine Fühler immer ein bisschen über den Post/Prog/Doom/Psych/Alternative-Kosmos auszustrecken und suche dafür die Szenegrößen auf.
IDM ist schon ein bescheuerter Begriff, aber zum Glück bin ich nicht so tief in den elektrischen Genres drin, dass ich mich um solche Nuancen kümmern müsste.
Dito, das läuft/steht bei mir ebenfalls alles unter "Electro".
Ich bevorzuge ja selbstverständlich den Begriff Electronica
Wahnsinns Album!