laut.de-Kritik
Der Boss auf dem Gipfel des Pop-Olymp.
Review von Alexander KrollStatt Musikgeschichte hätte "Born In The U.S.A." beinahe Filmgeschichte geschrieben.
Anfang der Achtziger plant Scorsese-Kollaborateur Paul Schrader nach Drehbuch-Meisterwerken wie "Taxi Driver" und "Raging Bull" einen Film über Musiker in Cleveland, Ohio. Über-Rocker Bruce Springsteen soll einen Song dafür schreiben und bestenfalls auch die Hauptfigur, die er inspiriert hatte, auf der großen Leinwand verkörpern. Lange Zeit liegt Schraders Skript mit dem Arbeitstitel "Born in the U.S.A." auf Springsteens Schreibtisch.
Doch der New Jersey-Musiker, der mit den epischen Alben "Born To Run", "Darkness On The Edge Of Town" und "The River" von Erfolg zu Erfolg eilte, verzichtet auf eine Filmkarriere. Stattdessen übernimmt "Back to the Future"-Star Michael J. Fox die Hauptrolle neben der Rockmusikerin Joan Jett. Erst 1987 kommt Schraders Film unter dem Titel "Light Of Day" in die Kinos. Benannt nach einem Lied, das Springsteen dem Regisseur nachträglich zur Verfügung gestellt hatte.
Aus Schraders Überschrift "Born In The U.S.A." wird eine absolute Bruce-Marke. Als der "Boss", wie er seit den Anfängen seiner E-Street-Band genannt wurde, an einem Song namens "Vietnam" arbeitet, singt er dazu lauthals den Titel des Skripts, das auf seinem Schreibtisch liegt. Geboren war das wohl bekannteste Springsteen-Stück sowie die Leadsingle eines Albums, das mit über 30 Millionen verkauften Exemplaren zum erfolgreichsten in der Karriere des Rock-Visionärs werden sollte und zu einem der erfolgreichsten aller Zeiten.
Sogar ohne Hollywood-Deal bietet Springsteens siebtes Album ein audiovisuelles Spektakel. Angefangen beim ikonischen Plattencover der Starfotografin Annie Leibovitz, das die Rückseite des Musikers vor der US-Fahne zeigt, präsentiert Springsteen ein Kaleidoskop aus Songs, Live-Shows und vielen bunten Bildern im neuen Musikvideoformat. Mit ärmellosem Shirt, Jeansjacke und rotem Bandana bringt der Mittdreißiger seine sozialkritischen Rockstorys auf die ganz große Pop-Bühne und etabliert sich endgültig als einer der strahlendsten Superstars.
Ganz nach Plan läuft es zunächst nicht. Eigentlich will der Rock-Poet, die Vierspur-Demos, die er im Januar 1982 auf einer Ranch in Colts Neck, New Jersey, aufgenommen hat, mit der E-Street-Band einspielen, doch bei den dreiwöchigen Mai-April-Sessions in New Yorks Power Station Studio funktionieren nur drei Tracks elektrisch ("Born In The U.S.A.", "Working On The Highway" aka "Child Bride", "Downbound Train"). Der Rest erscheint im September als minimalistisch aufreibendes Singer-Songwriter-Werk "Nebraska".
Trotzdem sind die ersten Sessions so erfolgreich, dass ganze acht Stücke auf der finalen Version von "Born In The U.S.A." landen. Von den rund siebzig weiteren Songs, die bis März 1984 entstehen, kommen noch "My Hometown", "No Surrender", "Bobby Jean" und "Dancing In The Dark" hinzu. Veröffentlicht wird das Album, das Bruce in seiner Biografie als "the biggest record of my life" bezeichnet, im Juni 1984.
Zu hören ist ein Panorama aus kompakten Poprock-Tracks, von laut bis leise, ernst bis humorvoll, und mit neuem Hang zur Synthesizer-Verzierung. Sieben Lieder werden ausgekoppelt, und zum ersten Mal in der Geschichte kommen sieben Singles in die Top Ten der Billboard Charts. Zu dem Titelsong, "Cover Me" und "Dancing In The Dark" erscheinen sogar Dance-Remixe.
"Dancing In The Dark" wird zum ersten großen Hit des Albums. Als die Aufnahmen eigentlich schon abgeschlossen sind, fordert Springsteens Manager und Produzent Jon Landau noch eine richtige Hitsingle, und über Nacht schreibt der Musiker den perfekten Popsong. Mit verführerischem Synth-Riff und mitreißendem Refrain markiert der Track einen der eingängigsten, tanzbarsten Stücke in Springsteens Diskografie. Legendär bleibt auch das Musikvideo, das Courteney Cox den Weg zum "Friends"-Weltruhm ebnen sollte und das die bis heute bestehende Tradition einleitete, Bruce-Fans bei dem Titel zum Tanzen auf die Bühne zu holen.
Gelegenheit zum Tanzen gibt es auf "Born In The U.S.A." zuhauf. Beim straffen Groove von "Cover Me" verwundert nicht, dass das Lied eigentlich für Disco-Queen Donna Summer geschrieben wurde. Großen Big-Band-Spaß zum Mitschunkeln bieten "Darlington County", sowie das zunächst ernst und akustisch konzipierte "Working On The Highway" und der bittersüße Rückblick "Glory Days". Bei Letzterem spielt der Sänger ein 'Früher war alles besser'-Szenario an zwei Figuren durch, um es abschließend für sich selbst zu antizipieren: "And I hope when I get old, I don't sit around thinking about it / But I probably will". Natürlich.
Bei aller Dynamik zelebriert der Megaseller auch Momente der Ruhe. Mit der Cash-reminiszenten Fingerpick-und-Synth-Miniatur "I’m On Fire" gelingt zur Halbzeit ein meisterlich hypnotischer Popsong. Gleich daneben, bei der Rockballade "Downbound Train", regiert melancholischer Trennungsschmerz. Die stärkste stille Reflexion gelingt im Finale mit der Folk-Elegie "My Hometown", die elektronisch untermalt und biographisch inspiriert, von Amerika als Traum und Tragik erzählt.
Egal in welche Richtung das Pendel musikalisch und inhaltlich ausschlägt: Im Kern bleibt "Born in the U.S.A." ein Rockalbum. Viel Energie bringt "No Surrender" ins Spiel. Als Hymne auf die Unbesiegbarkeit echter Freunde liefert das Lied – wie auch "Bobby Jean" – einen Abschiedsgruß an Springsteens Gitarristen und Jugendfreund Steven Van Zandt, der im Juni 1982 die Band verlässt und sich seiner eigenen Musik widmet. Anders als Bruce startet Little Steven sogar eine Schauspielkarriere, kehrt aber 1999, parallel zum Start der Mafiaserie "The Sopranos", wieder zur E-Street-Band zurück.
Springsteens Titeltrack konzentriert die rockige und gleichzeitig vielschichtige Qualität des Albums. Mit mächtigem Beat und feierlichem Synth-Motiv transportiert der Opener einen martialischen "Born in the U.S.A."-Ausruf. Bis heute sorgt der Bombast des Refrains dafür, dass der Song als heroisch-patriotisches Statement missverstanden wird.
Doch hinter der Chorus-Wucht verbergen sich nüchterne, sozialkritische Nuancen. Mit piercender Stimme erzählt der New-Jersey-Sänger die trostlose Geschichte eines zurückgekehrten Vietnam-Soldaten. Als Gegenpol zur romantischen Aufbruchsfantasie im frühen Meisterwerk "Born To Run" heißt es statt "Baby, we were born to run" nur noch "Nowhere to run, ain't got nowhere to go".
Als Inspiration für das Lied diente die 1976 erschienene Autobiographie des in Vietnam verwundeten Veteranen und Friedensaktivisten Ron Kovic. 1989 wurde das Buch von Oliver Stone verfilmt und ging mit Hauptdarsteller Tom Cruise in die Filmgeschichte ein.
Bruce Springsteen blieb dabei, Musikgeschichte zu schreiben.
In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.
4 Kommentare mit 2 Antworten
Gipfel des Kitsch?
Nein
Bin mit dem Album nie wirklich warm geworden. Aber sicherlich Meilenstein würdig.
Ich kenne natürlich die Singles, aber für mich ist Nebraska einfach nur heilig und ich habe mir daher noch nie ein anderes Album vom Boss angehört. Ich habe immer Schiss, dass meine Liebe für Nebraska dann darunter leidet.
Ach das denke ich nicht. Kenne selber auch noch "Tunnel of Love" (die beiden nachfolgenden Alben habe ich damals auch gehört, sind aber nicht Erinnerungswürdig) und ein dutzend anderer Songs aus anderen Alben. "Nebraska" ist für mich immer noch Album Nummer 1 vom Boss.
Für mich nicht sein bestes, aber ein verdammt starkes Album! Nur schade, dass der Titelsong bis heute so gerne falsch verstanden wird.