laut.de-Kritik
Eine Momentaufnahme von ungebändigter Kreativität.
Review von Toni HennigEnde der 90er veröffentlichten Can mit "Music (Live 1971-1977)" eine Doppel-CD mit Liveaufnahmen aus ihren Archiven. Ein ganzes Konzert gab es von ihnen aber bisher noch nicht auf Platte. Das ändert sich nun mit "Live In Stuttgart 1975".
Das Album, das als Doppel-CD und Dreifach-LP erscheint, bildet den Auftakt einer fünfteiligen Serie von Liveaufnahmen. Die hat Andrew Hall ermöglicht, ein britischer Fan, der ab 1973 insgesamt 44 Konzerte der Band in Europa mit einem in der Hose versteckten Sony-Kassettenrekorder mitschnitt. Außerdem wuchs sein Bootleg-Archiv auf mehrere hundert Aufnahmen an, da er andere Fans darum bat, ihre eigenen Kassetten an ihn zu schicken, da er nicht zu jedem einzelnen Gig der Formation reisen konnte. Ein Glück, denn technische Pannen verhinderten, dass die Kölner zur Zeit ihres Bestehens oder danach eine richtige Live-Platte herausbringen konnten.
Die Bootleg-Aufnahmen restaurierte Irmin Schmidt zusammen mit Produzent und Toningenieur René Tinner mit den technischen Mitteln des 21. Jahrhunderts neu, um sie in bestmöglicher Qualität zu präsentieren. Das ist den beiden mehr als gelungen, denn dass es sich bei "Live In Stuttgart 1975" um ein Bootleg handelt, hört man kaum heraus. Dazu tönt der Sound viel zu ausgewogen aus den Boxen.
Musikalisch begegnet man rein instrumentalen Jams, die sich wie die Studioalben der Band als Momentaufnahmen erachten lassen. Irmin Schmidts psychedelische Orgel leitet "Stuttgart 75 Eins" ein, das sich zu einer lockeren Improvisation entwickelt, die den Geist von Miles Davis' "Bitches Brew" atmet. Dabei treibt Jaki Liebezeit mit tighten Schlagzeug-Klängen die Nummer rhythmisch voran, während Holger Czukay seinem Bass fast sowas wie ganze Melodien entlockt und Michael Karoli an seiner Gitarre rockige Akzente setzt. Am Ende dreht die Band mit leidenschaftlicher Saiten-Arbeit, wilden Drums und einfallsreichem Bassspiel richtig frei. Auch die restlichen Jams münden in einem spannenden Finale.
Im folgenden "Stuttgart 75 Zwei" steht eine gewisse Opulenz im Vordergrund, wenn man weitläufige Orgel, melodische Gitarren-, flotte Schlagzeug- und lebhafte Bass-Töne vernimmt. Mit zunehmender Spielzeit führt Karoli die Improvisation in immer emotionalere Sphären, so dass man beinahe an Terje Rypdal denkt. Zum Schluss bekommt man psychedelischen Space-Rock geboten, wie ihn Hawkwind auch nicht besser hinbekommen hätten.
Repetitive Schlagzeug-, Bass- und Gitarrengrooves mit gelegentlichen Orgeleinsprengseln hört man dann in "Stuttgart 75 Drei", das sich durch die recht monotonen Motive Karolis zu sehr in die Länge zieht. Dafür zeigt sich der Gitarrist gegen Ende zu variablen Drums, wahnwitziger Orgel und knurrendem Bass von seiner entfesselten Seite, was die Längen zuvor ein wenig entschädigt.
Es folgt mit "Stuttgart 75 Vier" der Höhepunkt des Konzertes. Der lebt von einer nächtlich melancholischen Atmosphäre und unheimlich einfühlsamen Gitarren-Melodien, die einem das Herz aufgehen lassen. Ein bisschen Wahnsinn darf es dennoch sein, gestaltet sich der Schluss doch recht chaotisch und dissonant.
Das abschließende "Stuttgart 75 Fünf" lässt schließlich nachvollziehbare Strukturen gänzlich vermissen. Zu behutsamen Schlagzeug-Klängen, Gitarreneinsprengseln und akzentuierendem Basssspiel schweben wabernde Orgeltöne über der Improvisation. Ab der Mitte gibt es dann überhaupt kein Halten mehr, wenn Can mit wirbelnden Drum- und dissonanten Orgel-Sounds sowie verzerrter Saiten-Arbeit eine Krachorgie sondergleichen fabrizieren.
Insgesamt stellt "Live In Stuttgart 1975" ein Zeugnis der vielfältigen Qualitäten der Kölner dar und zeigt ein Quartett, dessen Kreativität immer noch so ungebändigt war wie vor dem Ausstieg Damo Suzukis 1973. Auf die weiteren Teile darf man also überaus gespannt sein.
6 Kommentare
Großartiges Live Album, 5/5
Ist mir zu verdaddelt, speziell Michael Karoli gniedelt doch arg ziellos durch die Gegend.
Dieser Kommentar wurde wegen eines Verstoßes gegen die Hausordnung durch einen laut.de-Moderator entfernt.
Man hört rein und denkt, na wann singt wer? Aber dann wird man gewahr, 75, da war der charismantische Gesangstil nicht mehr an Bord. Und dann denkt man, nett und was geht noch? Aber es geht immer so weiter. Und dann wird man gewahr wie genial das ist. Bitches Brew im Rheinland. Das haut einen weg!
Konnte ehrlich gesagt mit den Studioalben nie so viel anfangen, aber das hier ist geil!
War vielleicht nicht der beste Auftritt. Habe öfter mal viel spannendere Jams in privater Runde. Aber so ist das eben mit Inprovisation. Der Sound ist ganz in Ordnung. Man hört schon noch den Bootleg-Charakter, aber es ist erstaunlich, was da herausgeschält wurde.
Liebezeit, das lebendige Metronom, und Czukay waren einfach nicht in der Lage, schlecht zu spielen.