laut.de-Kritik
Eine euphorische Welle der Lust, der Liebe und des Verlangens.
Review von Mirco LeierArt Pop ist auf rein oberflächlicher Ebene eine furchtbare Genre-Bezeichnung, weil sie impliziert, dass im Umkehrschluss auch ein Pop existiert, der das Prädikat 'Art' gar nicht verdient, der gar keine Kunst sei. Der Begriff spielte zwar ursprünglich vorrangig auf die Verwebung von Popkultur, Pop-Musik und Kunst-Theorien an, dient heutzutage allerdings ebenso sehr als simpler Deckelbegriff für alles, was zu poppig klingt um Indie zu sein, aber zu konzeptionell für's Mainstream-Radio. Und dennoch macht die Bezeichnung für manche Alben einfach Sinn. Caroline Polacheks zweites Solo-Abum "Desire, I Want To Turn Into You" ist eines davon.
Die frühere Chairlift-Sängerin bekennt sich hier noch mehr als je zuvor in ihrer Karriere ganz schamlos zum Pop in seiner reinsten Form. Die Kompositionen, die sie auf dieser LP unterbringt, gehören mit Abstand zu den zugängigsten und spaßigsten ihrer gesamten Karriere. Die Lead-Single "Bunny Is A Rider" hätte man sogar eben doch durch die UKW-Wellen des Massengeschmacks jagen können, ohne Angst haben zu müssen, seine Hörerschaft zu verlieren. Doch das Ungewöhnliche, das Hochgestochene, ja von mir aus auch die Kunst, wenn man es denn so platt sagen möchte, springt einem beim Hören geradezu ins Ohr.
Man muss im Grunde nur einen Blick auf das wunderschöne Cover werfen, um hier einen gewissen intellektuellen Überbau zu erahnen. Dabei bleibt das Konzept von "Desire, I Want To Turn Into You" trotz der offensichtlichen Proklamation im Titel stets vage und obskur. Polachek singt über Liebe und Verlangen, über Körperlichkeit, über Wünsche und Träume, aber sie tut es teils mittels fast schon kryptischer Poesie. "I'm so non-physical" heißt es auf "Bunny Is A Rider", "These days I wear my body like an uninvited guest" auf "Sunset". Dieses schwer greifbare, fast schon dissoziative Motiv der Körperlosigkeit, das sich wie ein roter Faden durch das Album zieht, offenbart auch den emotionalen Kern von Polacheks Zweitling. "It refuses literal interpretation on purpose", sagt sie.
Vielmehr als ein Album der Gefühle ist es ein Album des Fühlens, des sich-Treibenlassens. Das mag gerade im Tandem mit manchen der etwas unsinnigen Texte prätentiös klingen, doch man müsste schon besonders kaltblütig sein, um sich der fast schon mystischen Odyssee widersetzen zu können, auf die einen dieses Album entführt. Insbesondere weil Polachek der Coup gelingt, trotz der offenkundigen Bekenntnis zur Eingängigkeit, ihr Charisma und ihre musikalische Exzentrik nicht zu verlieren.
Schon der Opener heißt uns mit einem Sound auf einer musikalischen Insel willkommen, die sich irgendwo zwischen New Age und Hyperpop verorten lässt. Selbst ohne das Video gesehen zu haben, sieht man Polachek förmlich vor dem inneren Auge, wie sie von den funkelnden Dance-Synths getrieben majestätisch den Strand entlang stolziert, wie mit jedem kurzen Einsetzen der Gitarren die Wellen in die Höhe schnellen und sie allein mit ihrem Timbre Flora und Fauna um sich herum dirigiert.
Ihre unglaublich evokative Stimme, die sie immer wieder in ihrer vollen, beeindruckenden Spannweite zur Schau stellt, bildet Dreh- und Angelpunkt der LP und lässt die 37-Jährige fast schon übernatürlich erscheinen. Wie ein mystisches Wesen, das sich von seinem Körper los sagte, sucht sie in diesen zwölf Songs Zuflucht und macht sie zu persönlichen musikalischen Gemälden. Auf "Pretty In Possible" funktioniert das so gut, dass einem gar nicht gleich auffällt, dass der Song über seine komplette Laufzeit ohne Chorus und ohne wirkliche Verses auskommt.
Auf "I Believe" transformiert Polachek kitschig-anmutende orchestrale Synth-Schläge in sehnsüchtige Bilder von salzigen Wind, wehenden Haaren und einer untergehenden Abendsonne. Während sie auf dem Flamenco-inspirierten "Sunset" jene Sonne wiederum auf ihrem Zenit malt und sie in ihrer vollen Kraft auf uns nieder brutzeln lässt. Das klingt alles so lebendig, so voller Verlangen und Drama, dass man den Schweiß förmlich auf der Haut spürt und auf einmal selbst in fiktiven Erinnerungen zu schwelgen beginnt.
Wohingegen man zu dem atmosphärisch-dichten "Crude Drawing Of An Angel" dem Nebel regelrecht dabei zusehen kann, wie er aus den Boxen wabert. Es klingt, als hätte sich Enya nach Twins Peaks verirrt. Polacheck versteckt sich hinter einer Wand aus müdem Bass und pulsierenden Synths, und singt mit einer Distanz, als würde sie aus einer anderen Ebene des Bewusstseins zu uns singen.
Dass all diese verschiedenen Klangwelten so fließend ineinander übergehen und sich eher komplementieren, als sich im Weg zu stehen, verdankt Polachek unter anderem auch Danny L Harle. Bereits auf vorigen Kollaborationen mit der Chairlift-Frontfrau spielte der Produzent mit neuen Sounds und Ideen, doch so selbstbewusst außerhalb seiner Komfortzone wie hier, hat man ihn bislang noch nicht erlebt. Der PC Music-Guru vermengt Einflüsse der Weltmusik, mit Elektronika, mit Hyperpop und mit klanglicher New Age-Esoterik zu einem verzauberndem großen Ganzen, das all diese Genres zu etwas wahrlich einzigartigem kombiniert und sich in der Folge dieses Jahr im Pop weitestgehend außer Konkurrenz bewegen dürfte.
Keine musikalische Entscheidung verkommt hier zum Selbstzweck. Die verrückten Kniffe, wie der Dudelsack der auf "Blood And Butter" zum Solo ansetzt, der Kinderchor am Ende von "Billions" oder der piepender Rauchmelder, der das Fundament des Instrumentals für "Hopedrunk Everasking" bildet, wirken nicht wie schrullige Gimmicks, sondern in diesem musikalische Kosmos wie vollkommen logische, kleine Geniestreiche, die den Songs mehr Tiefe verleihen. Auch Grimes und Dido, die Polachek auf "Fly To You" einlädt, finden in dieser mystischen Welt ein zweites Zuhause, und bescheren uns einen der magischsten musikalischen Momente der jüngeren Vergangenheit
Mit "Desire, I Want To Turn Into You" liefert Polacheck das kompletteste und identitätsstiftendste Projekt ihrer langen Karriere ab, sowohl musikalisch als auch konzeptionell. Es fühlt sich so an, als wäre hier ein Damm gebrochen, der all die Emotionen aufstaute, die sie über die Entstehungszeit während der Pandemie sich nicht zu fühlen erlaubte.
Das Album gleicht einer euphorischen Welle der Lust, der Liebe und allen voran des titelgebenden Verlangens. Noch mehr als alles andere ist es ein Verlangen, wieder zu sich selbst zu finden, seinen Körper wieder zu spüren, wieder Herr der eigenen Emotionen zu werden. Dieser Prozess macht nicht immer Sinn, aber wenn man sich von diesem Strom der Gefühle treiben lässt, versteht man, wen Polachek meint, wenn sie am Ende singt: "I never felt so close to you".
5 Kommentare
Für mich bis jetzt das Album des Jahres. Macht richtig Bock! Mehr dazu hier: https://youtu.be/RKFIkskAIc0
Bisher eins der besten Alben des Jahres, einzige Manko ist für mich, dass es im letzten drittel eeetwas an Saft verliert.
'Bunny' bis 'I believe' ist der perfekte 4 song run, und einen besseren Album opener als 'Welcome' findet man momentan einfach nicht.
Dafür das es so euphorisch besprochen wurde tröpfelt sehr belanglos aus dem Lautsprecher. Eine wohlwollende 3/5.
Vielleicht wächst es ja noch mit der Zeit.
Geht mir so gar nicht rein, ist dasselbe theatralische Hyperpop-Gekreische wie immer. Kann wech.
Album des Jahres 2023, perfekter geht Pop nicht mehr.