laut.de-Kritik
Hip Hops futuristischster Moment 2020.
Review von Yannik GölzDaoko hat ihr Potential erst dann abgerufen, als ihr Sellout gescheitert ist. Drei Jahre, nachdem sie mit der Soundtrack-Schnulze "Uchiage Hanabi" Japans Hot 100 gipfelte und ein paar angenehme, aber unbeeindruckende Major-Releases auf den Markt brachte, wirft sie das Leben als säuselnder J-Pop-Vocalist über Bord und vereint das Label-Budget mit der Musik ihrer Anfänge: Auf "Anima" kehrt sie zum Rap zurück, zu ihrem so typisch untypischen genre-fluiden, abstrakten Electro-Rap, der sie Anfang des Jahrzehnts mit gerade einmal 16 Jahren zur Sensation machte. Diese Platte findet in Einfluss und Umsetzung so weit vom für uns typischen Rap-Sound statt, sie könnte genauso gut aus einer Parallelwelt stammen.
Tragende Pfeiler für dieses Projekt stammen nämlich aus drei Szenen: Zum einen kehrt Daoko zum Status Quo des japanischen Indie-Raps zurück. Ihre Delivery erinnert an MCs wie Haru Nemuri oder Kiki Hitomi, deren Offenheit für vogelwildes Sampling und Genre-Crossover sie genauso teilt. Zum anderen bringt sie aus ihren letzten Releases J-Pop-Mainstream-Erfahrung mit, die sich zwar nur vereinzelt zeigt, sich dann aber aus dem Nichts in unglaublich einschlägigen Refrains entlädt.
Und schließlich wirkt auf "Anima" die Spätphase der ominösen Vocaloid-Community, in der Daoko 2013 selbst ihren Durchbruch erlebte. Gerade in den letzten Blütejahren des Hatsune Miku-Hypes wurde dort wild mit industriellen und elektronischen Klängen gespielt, während der Vogue-Stil des Komponierens immer grandioser und komplexer ausfiel. Aus jedem Camp hat sie ein oder mehrere Produzenten rekrutiert, um die exzentrische und vorwärts denkende Vision dieses Albums möglich zu machen.
Kurz abgebildet ist diese im spektakulären Titeltrack: Der Groove trägt unverwechselbaren Hip Hop-Knock, was darauf entsteht, muss man aber erst verarbeiten. Wild wuchern Synthesizer-Riffs, Science Fiction-Samples und grollende Pianos, alles im selben wilden Dur-Schlüssel gespielt. Und gewöhnt man sich gerade an die chaotische Harmonie einer Sektion, transformiert der Song sich in eine neue Phase, mal in eine melodische Bridge, dann in ein Synth-Pop-Interlude, dann in ein Funk-Bass-Riff. Die rohe Lust auf Songwriting in diesem Stück beeindruckt nicht nur mit die kaleidoskopischer Vielfalt, sondern auch mit kompromissloser Effektivität. Beim ersten Hören verliert man den Anschluss an den Track fast garantiert, aber egal, wo man sich verläuft, man will sich in jedem bizarren Segment nur wohlfühlen.
Es gibt so vieles auf "Anima", das Aufmerksamkeit einfordert und verdient, dass man sich manchmal einfach im hektischen Treiben der Platte treiben lassen möchte, um sich auf die außerirdischen Sound-Designs einzulassen: Im Gegensatz zur westlichen Musik, die derzeit in Verzerrung, Lo-Fi und Reverb ertrinkt, ist "Anima" geprägt von einer auffälligen Scharfkantigkeit. Jedes Element wetzt sich kristallin und symmetrisch durch die Songs, lediglich die Absurdität der Klänge und deren komplexes Layering gibt dem Projekt seine unverwechselbare Tiefenschärfe.
Dabei entsteht eine psychedelische Kulisse, ohne die dafür üblichen Techniken zu verwenden. "Kaichuu Yuuei" zum Beispiel rotiert Hyperpop-esken Rubber Bass gegen Synthesizer, die wie Echolote und Xylophone klingen. Das Ergebnis ist eine Komposition, die in ihrer liquiden Formlosigkeit fast an Motive auf Arcas "Xen" erinnert, mindestens aber an ein "Bug Thief" von Iglooghost. Und während sich all diese Instrumente in den Kosmos aufschaukeln, verankert Daokos leichtfüßiger Rap den Song rhythmisch.
Sie hat aber auch einen faszinierenden Rapstil, ihre Pattern halten komplexe Synth- und 808-Arrangements in einer regelmäßigen Balance, während sie selbst völlig mühe- und schwerelos durch die Songs geistert. Zum Beispiel hält sie flow-technisch auf dem unerwartet Funk-inspirierten Song "High Sense Paisen" spielend Schritt mit dem legendären japanischen Beastie Boys-Äquivalent Scha Dara Parr, deren absurde 90er-Flows sie so lässig überflügelt. Daokos Rap charakterisiert sich trotz eines teils beeindruckenden Tempos stets durch eine mühelose Leichtigkeit, als erzähle sie, während ihre Gedanken ganz woanders schweifen.
Doch "Anima" überzeugt nicht nur mit schwerelosen J-Hip Hop-Flows auf experimentellen, komplexen Electronica-Beats. Der Schritt zur absoluten Großartigkeit entsteht, wenn sie in den richtigen Momenten die genau richtige Dosis Pop-Appeal durch das Projekt blitzen lässt. Das wunderschöne "Strawberry Moon" erdet das Projekt in der Schlussphase mit einem balladesken J-Pop-Stück, ihr Flow bewegt sich erst ins Melodischere, dann geht Prechorus und Refrain in melancholischen Gesang über. Cyberpunk-Nostalgie, ein Song, der sich gleichzeitig unnahbar fern und doch ganz einfach nachzuvollziehen anfühlt.
Extremer wird die Pop-Ambition lediglich auf "Achilles-ken", dem einzigen reinen Gesangs-Stück, das auch durch den singulären Reverb-Einsatz aus der Tracklist hervorsticht. Aber der schwerelose, eindringliche Einsatz ihres hohen Stimmregisters geht auf, der Song erdet den musikalisch eigenwilligen Einstieg in der Stimmung gekonnt. Vor allem, wenn mit "Otogi No Machi" der Banger des Projekts gleich darauf wartet: Der drängende 808-Bass hätte so auch auf einem Run The Jewels-Track landen können, wird daraufhin aber gleich von einer pulsierenden House-Komposition in einen schillernden Dance-Track transformiert. Auf dem Refrain kommandiert Daoko den Flair des Songs in konventionellster MC-Manier zu einem garantierten Treffer für den Dancefloor.
Es ist fast unmöglich, die Gesamtheit von "Anima" entsprechend zusammenzufassen. Das Album ist die Großtat, die man von den meisten interessanten Indie-Artists erhoffen würde, wenn sie auf ein Major-Label überwechseln. Das Projekt kanalisiert die chaotische Energie japanischer Popmusik von J-Hip Hop bis zum Shibuya-Kei und erweitert sie um Ideen modernster elektronischer Musik zu Kompositionen und Arrangements, die in ihrer Komplexizität mit Math Rock und Jazz mithalten könnten. Trotzdem dominiert Daokos federleichte Stimme und ihre abwesende Präsenz das Projekt so spielend, dass kein Moment aus ihrer ambitionierten Vision fällt. Das Album ist eine blätternde und pulsierende Traumwelt, in der die Sängerin geometrische Muster aus Wasserfarben malt. Es gibt kein Hip Hop-Album, das auch nur ansatzweise so klingt wie dieses, und wer sich auch nur ansatzweise dafür interessiert, welche Formen Rap in einer anderen Realität annehmen kann, sollte diesem Projekt unbedingt eine Chance geben.
2 Kommentare
"Otogi no machi" wurde von Nariaki Obokuro produziert. Seine beiden Soloalben würden eigentlich auch mehr Aufmerksamkeit im Westen verdienen.
Das klingt für mich nicht futuristisch, sondern harmlos bis käsig lärmig mit 90er Popmusik und Synthesizer-Triphop Einflüssen. LG, Boomer Simpson