laut.de-Kritik
Zeit für rote Fahnen.
Review von Josephine Maria BayerSchon Mitte der Achtziger erschien das Rostocker Quartett Dritte Wahl auf der Bildfläche des musikalischen DDR-Undergrounds, damals noch mit Frontsänger Busch'n, der in jungen Jahren an Krebs starb. Seit 2005 steuert Gunnar Schroeder den Gesang bei. So wie bei Busch'n hört man ihm den Rostocker-Dialekt an. Inhaltlich hat sich in den 35 Jahren kaum etwas verändert.
Das Album "Urlaub In Der Bredouille" wartet wieder mit wütenden, revolutionären Punk-Songs auf, die zuweilen eine harte Metal-Färbung annehmen. Mit Schmackes befördern sie im Opener die "Milliardäre Ins All". Elon Musk nennen sie zwar nicht beim Namen, aber die Assoziation liegt nahe. Eine weibliche Roboter-Stimme beginnt den Countdown der Rakete. Die Reise zum Mond treten sie auch mit "Edwin Aldrin" an - ein Song über den US-amerikanischen Astronauten "Buzz" Aldrin, der als zweiter Mann den Mond betrat. Der muss sich ganz schön dumm vorgekommen sein, überlegt Gunnar.
Der marxistische Eifer zieht sich wie ein roter Faden durch die Alben der Dritten Wahl. Auch "Urlaub In der Bredouille" führt diese Tradition fort. Abgedroschene neoliberale Sprüche wie "Das Regelt Der Markt" kommentieren sie sarkastisch: "Den kontrollierten Untergang, den regelt der Markt.". Mit dem Janosch-Spruch "Oh wie schön ist Panama" kritisieren sie reiche Steuerhinterzieher ("Panama"). Im Kampf gegen den Kapitalismus sei es zu früh, aufzugeben ("Keine Zeit Für Weiße Fahnen").
Bei so viel politischer Message besteht immer das Risiko, belehrend zu wirken. Dieser Gefahr entkommen sie mit einigen auflockernden, fantasievollen Nummern, wie etwa "Der Spion", der gemeinsam mit ihren Leipziger Punk-Kollegen 100 Kilo Herz entstand. Das orchestrale James Bond-Intro wird von einer Big Band mit rockiger Begleitung abgelöst. Das humorvolle "Urlaub In Der Bredouille" überrascht mit einer Mambo-Bridge.
"Steine Im Weg" will Niedergeschlagenen wieder Mut machen, verzichtet jedoch auf Melancholie und Sentimentalität. Stattdessen hebt der treibende Beat die Laune: "Wenn dir das Schicksal einmal Steine in den Weg legt, dann stell' dich drauf und schau' dich ganz in Ruhe um. Genieß' die Aussicht und fixier' erneut dein Ziel."
Dritte Wahl würdigen ihr 35-jähriges Bestehen mit einem Album, das an keiner Stelle langweilig wird. Statt eine Best Of-Platte hinzuklatschen, wie es viele Bands zu solchen Anlässen tun, liefern sie zehn neue Tracks, die das richtige Maß zwischen Spaß und gesellschaftskritischer Ernsthaftigkeit finden.
3 Kommentare mit 3 Antworten
"Das regelt der Markt" wäre echt cool, wenn der Vortrag nicht meine Deutschrock-Aversion triggern würde.
Aber für'n 30 Jahre altes Album nicht schlecht
Ich finde die Rezension etwas unambitioniert. War da wenig Zeit? Das VÖ Datum ist mit "1993" angegeben. Von Beginn an waren Dritte Wahl zu dritt und lange kein Quartett. Buschn war nie Frontsänger, sondern Bassist.
In den genannten Beispielen kann ich auch nicht so richtig "Marxismus" erkennen - oder ist Kapitalismuskritik = Marxismus?
Und gerade im Song "Weiße Fahne" geht es überhaupt nicht um Kapitalismus, sonder um Politiker, die immer autokratischer auftreten.
Insgesamt scheint mir das leider wirklich wie "einmal schnell reingehört" und fertig geschrieben. Schade.
"Von Beginn an waren Dritte Wahl zu dritt und lange kein Quartett. "
Die Rostocker Punkband Dritte Wahl (auch: 3. Wahl) trat zum ersten Mal 1988 auf. In Ur-Besetzung spielten sie mit Marko „Busch’n“ Busch als Frontmann und Toralf „Holm“ Bornhöft am Bass, der die Band aber 1991 verließ. In der Trio-Besetzung mit Busch’n (Gesang, Bass), Gunnar Schroeder (Gitarre, Gesang) und Jörn „Krel“ Schroeder (Gesang, Schlagzeug) erlangten sie deutschlandweite Bekanntheit und beachtliche Erfolge in der deutschen Punkszene.
Ok, das stimmt streng genommen. Aber seit dem allerersten Album waren sie halte als Trio und mit Gunnar Schröder als Frontsänger unterwegs.
Da wurde dann halt einfach Wikipedia abgeschrieben. Kann man machen.
Punkrockbands beim älter werden zuzusehen ist immer eine Zitterpartie. Lösen sie sich auf? Machen sie Schlager (Hallo Campino)? Oder finden sie einen Weg, nach über dreißig Jahren Bandgeschichte nicht wie eine Karikatur aus den 90ern zu wirken?
Was soll man sagen - Dritte Wahl haben es geschafft. Mit den Jahren haben sie sich musikalisch und textlich einen eigenen Stil angeeignet, den sie jetzt nach Herzenslust zelebrieren.
Dieses Fundament lässt das Album rund wirken, obwohl fast alle Songs eine ganz eigene Note bekommen haben. Und das macht den Reiz des Albums aus. Fast jeder Song passt, überrascht und schmeckt leicht anders. Gute Laune, Ernst und Humor tanzen zu knackigen Gitarren und modern produzierten Arrangements.
Los geht es mit "Wir schießen die Milliardäre ins All": Mit Melodien, Punk-Gitarren, ein paar elektronische Klängen und dem Band eigenen Humor sagt die Band: "Hey, das sind wir heute".
"Simulation" ist dann reine kurze Reise in die Vergangenheit. Textlich simpel, musikalisch brachial. Ich wette, dabei haben sie sich noch einmal bei ihrem ersten Auftritt in der Schülerspeisung gesehen.
Mit "Urlaub in der Bredouille" kommt der Titel gebende Track, der eine Art bittersüße Hymne auf die Umweltzerstörung ist. Der Refrain lädt mit seiner wohlfeilen Melodie zum Einstimmen ein, um dann gemeinsam den Untergang zu zelebrieren. Eine Praline mit Senffüllung statt Zeigefinger - das sitzt.
Bei "Panama" zeigt sich, dass Dritte Wahl lange genug dabei sind, um auch mal das Blumenhemd auspacken zu dürfen. Kurios fröhlichen Melodien auf dem Keyboard folgt ein Text, in dem sich "Familie Wichtig" über ihr Leben am "Existenzmaximum" auslässt. Dritte Wahl blödeln hier so erfrischend herum, dass dieser Song für mich zu einem Highlight der Platte gehört.
Bei "Keine Zeit für weiße Fahnen" gibt es eine kleine Demonstration, wie ernst gemeinte Punk-Songs heute aussehen können. Ja, es gibt üble politische Entwicklungen. Aber es ist nicht die Zeit, zu resignieren. Der Song ist musikalisch straight, fast schon klassisch und zeigt so nicht nur inhaltlich, dass er auf diesem Album einen Moment der Ironie freier Ernsthaftigkeit darstellt.
Mit "Das regelt der Markt" geht es dann wieder zurück zur Melange aus Message und Humor. "Den kontrollierten Untergang, den regelt der Markt" heißt es im Refrain. Sänger Gunnar Schröder kommt hier wieder mit seinem ihm eigenen Punk-Rap um die Ecke, den man schon von "Ihr seid so wie sie wollen, dass ihr seid" und "Geblitzdingst" kennt. Seltsam, dass es zu dieser FDP-Phrase bisher noch keinen Song gab - dieser Track regelt das.
"Edwin Aldrin" ist für mich ein rätselhafter Song. Sich musikalisch zurücknehmend erzählt er die Geschichte vom zweiten Mann auf dem Mond. Doch wer interessiert sich für die Nummer zwei? Nach dem Biografie-Song-Kracher "Ikarus" (über Julian Assange auf dem Album "3D") wirkt "Edwin Aldrin" blass. Hier hätte ich eher ein "Dabei sein ist alles" erwartet. Oder "Hey, Du warst auf dem Mond - ist doch egal, ob Du jetzt berühmt bist".
Ja und dann "Steine im Weg". Dritte Wahl zeigen uns grinsend: Klar können wir Stadion-Rock, hier seht ihr es. Aber mehr als einen Song machen wir nicht. Und nur deshalb passt dieser Song wirklich auf das Album. Einmal den Punker-Stolz vergessen und im Schlager-Refrain baden. Aber nur dieses eine mal. Wenn man bedenkt, dass Alben einiger Punk-Bands heute nur noch aus solchen Songs bestehen, muss man sich vor dem Move, dieses Stück zu schreiben und auf die Platte zu nehmen, einfach verbeugen und dann ungehemmt mit trällern.
Bei "Der Spion" hören wir eines dieser Experiment-Lieder, das sich auf fast jedem Album der Band findet. Diesmal geht es im James-Bond-Thriller-Sound durch eine Agentengeschichte. Ist das noch dasselbe Album? Na klar - und ein weiterer, herrlicher Überraschungsmoment im "Urlaub in der Bredouille".
"Statistik" ist hörbar der Schlussong. Die Platte dreht langsam aus und man kann sich dabei schon mal die Lederjacke ausziehen und das Licht wieder anmachen. Den Song hätte es sicher nicht gebraucht, aber an dieser Position darf er uns gerne, aus einer wilden Fahrt, wieder nach draußen entlassen.
Es wäre ein Leichtes gewesen, das Album so glatt zu striegeln, dass auch Fans von "Unheilig" und (den aktuellen) "Die Toten Hosen" mit schunkeln, um so auf Platz 1 der Charts zu kommen.
Liebe "Dritte Wahl" - danke für dieses Album, das ich auch 2023 ohne jede Scham und frohen Herzens weiterempfehlen kann!