laut.de-Kritik

Starkes Soulfood mit schiebenden Bässen.

Review von

Stell dir vor, es geht dir nicht so gut. Beispielsweise, weil dein Chef alles doof findet, was du tust. Oder du viel Geld fürs Fitnessstudio ausgibst, aber nie hingehst. Oder etwa, wenn du eine Wohnung suchst, jeder sagt, er würde sich melden, es aber doch nicht tut. Kurzum, wann immer du an unserer so genannten Zivilisation verzweifelst, hilft Estelle mit gut dosiertem Selbstbewusstsein und warmer Stimme weiter.

Denn die Britin macht deinen Chef schnell vergessen und dank ihrer kraftvollen Intonation klar, wer hier der Boss ist: Selbst sehr präsente Bässe lenken kein bisschen von ihrer Stimme ab. Dazu droppt sie eine positive Botschaft nach der anderen - das zeigen schon allein die Songtitel ("So Easy", "Really Want", "Better", "Sweetly", "One More Time" oder "Good For Us"), die musikalisch zwischen Soul, R'n'B, Hiphop, Reggae, Dancehall und Dubstep pendeln.

Die wummernden Sounds bei nahezu allen Songs von "Lovers Rock" eignen sich übrigens hervorragend für den verschobenen Fitnessstudiobesuch: Stöpsel ins Ohr, Estelle rein und die Chartsoße im Fitnessclub-eigenen Dudelradio übertönen - der Selbstversuch zeigt: Es wirkt!

Auch für Situation Nummer drei - die Sache mit der Wohnung - hält die R'n'B-Sängerin das passende Mittel bereit: verbindlich gute Laune. Das Zauberwort - im Rasta-Kontext - zur Umwandlung negativer Schwingungen in gute Laune mittels Musik heißt Upliftment. Anders als im Reggae-Lager üblich überlässt Estelle weder 'Jah the Almighty One' noch einem zu rauchenden Kraut die Kontrolle über ihre Tagesform: Die gute Laune macht sie sich selbst. Auf dieses Album hatte sie hörbar von vorne bis hinten Lust. Es fließt bruchlos ohne Langeweile und spendet Trost. So soll Soulmusik sein.

Aber ist das Soul? Erscheint die Platte doch auf einem Reggae-Label. Verwirrend. Da lesen wir zum Beispiel bei "Queen" den Namen Chronixx. Er tritt als Reggae-Gast auf. In diesem verschmust und unschuldig gesungenen Duett entfaltet sich der Titel des Albums: die Stilrichtung namens Lovers Rock. Der geneigte Soul-Fan mit gut sortiertem CD-Schrank liest dies als Anspielung auf ein Album von Sade.

Estelle legt hier gleichwohl eine falsche Fährte, nebenbei: Sade betrieb damals ebenfalls Etikettenschwindel. Denn echter Lovers Rock muss karibisch klingen. Das traf auf Sades Album nicht zu. Estelle macht es besser. So fußt besagtes "Queen" auf einem Reggae-Beat und die Stimmen von Estelle und Chronixx umgarnen einander. Damit wird das zweite Lovers Rock-Kriterium erfüllt: Die Musik muss nach Zweisamkeit klingen.

Das dritte Prüfkriterium, das oben genannte Upliftment, gelingt der Britin ohnehin immer. Ich denke da an so manche Songzeile des Debüts The 18th Day ...". Auch das Duett "Love Like Ours" mit dem "Wiederbeleber" der Stilrichtung, Tarrus Riley, erfüllt die Kriterien. Ebenso "Lights Out", das Reggae mit Soul kreuzt, sowie das gesanglich extrem starke "Karma". Letzteres pirscht sich mit zwei Stimmen (Estelle und Tina Pinnock a.k.a. Hood Celebrityy) sehr nahe an den Zuhörer heran. Zugleich wirkt der Song unnahbar, da Estelle ihn sehr digital, hart und unnachgiebig abmischen ließ.

"Meet Up", "Really Want", "Better", "Ain't No Bitch", "Don't Wanna" und der digitale Bonustrack "Slow Down" gehören zu einer zweiten Kategorie von Songs. Hier beobachtet man das Aufweichen der Grenzen zwischen R'n'B und Dancehall oder EDM und Dancehall - auch bei Santigold, AlunaGeorge, Nicki Minaj, Stefflon Don und vielen anderen lösen sich 2018 die stilistischen Trennlinien auf.

Kleine Verzierungen wie die dröhnenden Dubstep-Bassläufe am Ende von "Meet Up" oder die konsequente Einbindung von alltäglich klingendem Radio-EDM-Pop in einen sexuell anzüglichen Dancehall-Tune machen Estelle zudem recht discotauglich. Das schönste Geschenk an ihre Hörerschaft ist aber, dass Teile des Albums wie der Opener "So Easy", das soulige "One More Time" und das lässige "Good For Us" an ihre Anfangstage erinnern.

Den Neo-R'n'B der Ära, als India.Arie, Jill Scott, Alicia Keys, Joss Stone, Badu & Co. aufkamen, bewahrt sie sich. Somit gelingt Estelle eine perfekte Fusion aus Soul-Vergangenheit, Lovers Rock-Refreshment und Dancehall-Zukunftsdesign - relaxed und ohne auf unzählige Producer zurückzugreifen. Zwischen den Zeilen richtet sie so eine wichtige Botschaft an jeden von uns: Glaube an dich selbst und lebe dein Ding. Um Estelle im Interview mit Signed Media zu zitieren: "I'm me - I'm gonna be me and that's as far as you gonna get. [...] Let me do exactly what I feel like".

Trackliste

  1. 1. So Easy (feat. Luke James)
  2. 2. Meet Up (feat. Maleek Berry)
  3. 3. Really Want (feat. Konshens Nick Navi)
  4. 4. Better
  5. 5. Don't Wanna (feat. Kranium)
  6. 6. Queen (feat. Chronixx)
  7. 7. Ain't Yo Bitch
  8. 8. Sweetly
  9. 9. Karma (feat. HoodCelebrityy)
  10. 10. Lights Out
  11. 11. Love Like Ours (feat. Tarrus Riley)
  12. 12. One More Time
  13. 13. Good For Us

Videos

Video Video wird geladen ...

Weiterlesen

LAUT.DE-PORTRÄT Estelle

Arm an jungem und innovativem Talent waren die britischen Inseln noch nie. Gerade in der sogenannten Urban-Sparte blickt das Vereinigte Königreich auf …

1 Kommentar