laut.de-Kritik
Die britischen ADHS-Kavaliere mögen den Schlag ins Gesicht.
Review von David HutzelEverything Everything mögen den musikalischen Schlag ins Gesicht. Ja, die ADHS-Kavaliere aus dem englischen Manchester polieren der durchschnittlichen Hörgewohnheit mit ihrer dritten Platte ordentlich die Fresse. Eigentlich bleibt auf "Get To Heaven" also alles beim Alten: Organische Gitarrenhymnen mischen sich mit elektronischen Nadelstichen, Sänger Jonathan Higgs mimt mit seiner Gratwanderung zwischen Vollstimme und Falsett den schizophrenen Maestro.
Am Anfang steht die blanke Überforderung, ein nervöses Kribbeln als musikalische Ursuppe. Es dauert nicht lange, bevor das ruhige Intro bei "Distant Past" einer trippigen Passage des Sprechgesangs weicht. Es folgen Stimmen, die in einer fiebrigen Schleife den Songtitel immerzu wiederholen – und im nächsten Moment findet man sich schon im Refrain wieder: "Save me from the distant past / I want it so bad."
Letzteres trifft den Nagel auf den Kopf. Diese Musik nimmt ein rapides Tempo auf, die vielen ineinander verwobenen Details mögen grobes Facepalming hervorrufen. Doch nach einem kurzen Moment gilt auch hier das klassische Credo einer jeden Ausnahmesituation: Man will und kann nicht weghören. Die gute Nachricht: "Get To Heaven" sorgt dafür, dass man das auch gar nicht muss.
"Regret" holt sich Inspiration aus den Gospel-Musicals dieser Welt und vereint dies mit einem Tapping-Solo des Gitarristen Alex Robertshaw. Die Stimmung wechselt, "The Weel" beerdigt die Fete mit einer Art Orgel-Rave, bringt jedoch andächtige Tanzlaune mit sich.
Jonathan Higgs verspürt einfach keine Müdigkeit, redet irgendwas von "lobotomy" und haut einem eine Silbe nach der anderen um die Ohren ("Blast Doors"), dann folgen wieder epileptische Gitarrenentgleisungen ("Zero Pharaoh"). Dagegen fühlt sich das balladige "No Reptiles" an wie ein heimliches Bad im Gartenteich des Nachbarn: entspannt, weil man längst danach verlangte, aber man weiß nicht, in welchen Substanzen man da gerade schwimmt.
"Get To Heaven" ist im Endeffekt wie der sportliche Adonis, der früher in der Schule neben dir saß: Kann praktisch alles und ist sogar in Mathe noch besser als du. Everything Everything erweisen sich einmal mehr als beeindruckend vielfältig, machen sich zwar jede Menge Synthies zum Untertan, vergessen aber die Grundtugenden von Rock und Pop dabei nicht.
Groove, Gitarre und eine Prise Funk schwimmen in den Songs mit. Trotzdem hat man nie das Gefühl, deren Vielschichtigkeit von Beginn an durchschaut zu haben: Everything Everything liebkosen die Sinne, ohne sich gänzlich zu entblößen. So lassen die hibbeligen Klänge auf "Get To Heaven" einen wärmenden Kavaliersschmerz zurück, der nur Lust auf viele weitere Runden macht.
11 Kommentare mit 8 Antworten
Hm, hier wären meiner Meinung nach 5 Punkte angebracht gewesen. Ganz klar eine der besten Pop-Bands der Gegenwart.
genau das!
Rainer,
schenk uns den Edit-Button! Wir werden dich auf ewig lieben
Ich muss sagen, von dem was ich gehört habe bin ich enttäuscht, es geht immer mehr in den Pop.
Klar "früher waren sie besser" ist ne Standardfloskel und das will ich auch gar nicht behaupten, aber irgendwie packt mich davon gar nichts mehr leider...
Bietet ähnlich hohes Potenzial wie die letztjährige Scheibe von Alt-J. Heute gleich gekauft.
Ganz ganz großes Kino diese Scheibe und für mich eine absolut positive Weiterentwicklung. Läuft rauf und runter - es gibt wirklich viel zu entdecken ... und das bei durchgängig hohem Niveau. Hier gibt es kein Lieblingstrack weil einfach alles geil ist.
Schmunzeln muss ich, wenn ich mich an Korn oder Turboweekend erinnert fühle.
Platte des Sommers - ganz klar (was soll denn da auch noch kommen?). 6/5
Unglaublich. Nahezu JEDER Song ist ein Hit. Non-HipHop Album des jahres.
Dieser Kommentar wurde vor 9 Jahren durch den Autor entfernt.
abwarten, die foals kommt ja auch noch
Musik für Genrefremde.
Der Gesang ist einfach unerträglich bemüht, wenn regret im Radio gespielt wird, schalte ich jedes Mal um.