laut.de-Kritik

Wenn Ambition und eingängiges Songwriting aufeinander treffen.

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Zu den faszinierendsten Genres des nun auslaufenden Jahrzehnts gehörte Alternative R'n'B, aus dem auch FKA Twigs 2012 mit "EP1" aufbrach. Mit "LP1" gelang ihr eines der besten Alben der 2010er. Sie ist so was wie Björk, nur ohne die als unangenehm empfundene Stimme. Oder am ehesten wohl einfach die David Bowie, wenn der erst in den 2010er angefangen hätte, Musik zu machen. Doch nach der EP "M3LL155X" war plötzlich Ruhe.

Anstelle von Ruhm wartete Leid auf Tahliah Barnett. In ihrer Gebärmutter hatten sich sechs gutartige Tumore gebildet, die entfernt werden mussten. Zudem ging die vorher durch die Medien geschleifte Beziehung mit Mr. Batman Robert Pattinson in die Brüche. All dies findet sich im aus Schmerz geborenen "Magdalene" wieder. "Ich hätte nie gedacht, dass sich ein gebrochenes Herz so allumfassend auswirken könnte. Ich hätte nie gedacht, dass mein Körper aufhören könnte zu funktionieren, bis hin zu dem Punkt, dass ich unfähig war, mich in der Art physisch auszudrücken, wie ich es immer geliebt habe und wie es mir eine Menge Trost gespendet hat", erklärt sie die Auswirkung all dessen auf ihre Arbeiten am Longplayer.

Zwischen 2016 und 2019 entstanden die noch einmal deutlich vertrackteren und zudem langsameren Stücke ihres Zweitwerks. Dass diesmal Produzent Arca fehlt, fällt nicht weiter auf. "Magdalene" entstand stattdessen mit Noah Goldstein (Kanye West, The Weeknd, Sia), Jack Antonoff (Lana Del Rey, St. Vincent, Lorde), Kenny Beats (Vince Staples, JPEGMafia), Skrillex, Koreless, Daniel Lopatin aka Oneohtrix Point Never und anderen. Doch die Hauptarbeit leistete FKA Twigs selbst. Sie ist kein Spielball in den Händen ihrer Partner, sondern nutzt diese lediglich als Farbtupfer, um ihr Ziel zu erreichen.

"Ich habe alles hineingesteckt, das mir in den Sinn kam, einfach alles, bis es einfach nur wie eine massive Wand war, manchmal ohne BPM, ohne Struktur, nichts. Am nächsten Tag habe ich mich drangesetzt und Dinge weggemeißelt, immer weiter", erklärte sie ihr Songwriting vor einiger Zeit im Rolling Stone. Beim Herunterbrechen leistete sie diesmal ganze Arbeit. Trotz all den Brrrzzttt und Fzzbts, die das Soundbild des Albums bestimmen, bleibt es ruhig und spartanisch. Die Songs und ihre Geschichten stehen im Mittelpunkt. Sie würden auch ohne den künstlerischen Überbau jederzeit funktionieren. Kurz: Wir haben hier den seltenen Fall, dass künstlerische Ambition und eingängiges Songwriting aufeinander treffen.

Als Überbau dient ihr dabei Maria Magdalena, eine der wohl faszinierendsten und umstrittensten Figuren des neuen Testaments. Von Papst Gregor I zur Hure abgestempelt, denn starke Frauen in der Bibel, das darf nun wirklich nicht sein. Von anderen als Heilige, als Partnerin Jesu, als Vermittlerin der wahren Lehre gesehen, der in den Apokryphen möglicherweise eine viel größere Rolle zukommt. Barnett sieht sie in "Mary Magdalene" als Geliebte von Jesus und selbstbestimmte Heilerin, die von der Kirche bewusst entwertet wurde. Als Beginn des Patriarchats. "A woman's work / A woman's prerogative / A woman's time to embrace / She must put herself first."

Der Tag, an dem Herzen zerbrechen, steht in der melancholischen Ballade "Sad Day" im Mittelpunkt, durch die sich ihre verletzte Stimme zittert. Dabei nimmt das Arrangement immer wieder unerwartete Abzweigungen. In der von harten Percussions unterlegten Bridge zieht es sie gar in Richtung Kate Bush ("Hounds Of Love"). Das bis nah an den Stillstand zurückgefahrene "Daybed" zeigt die zweite Seite der Passion der FKA Twigs. Wenn nach der Operation nur noch das Bett bleibt, nichts mehr vom Erlebten ablenkt, schleicht sich langsam die Depression in den geschundenen Körper und Geist. Mit Masturbation versucht sie dieser wenigstens für eine kurze Zeit zu entkommen. "Faux my cunnilingus / Dirty are my dishes / Many are my wishes / Fearless are my cacti / Friendly are the fruit flies."

In "Home With You" nutzt Barnett ihre Stimme ähnlich wie eine Gitarre oder einen Synthesizer als Instrument, lässt sie in kurzen Abständen mal verzerrt, mal klar klingen, mal im Hall untergehen. Sie zeigt ihre ganze Bandbreite. Ebenso abrupt ändert der Song immer wieder seine Gestalt. Eine Origami-Komposition, die mit jedem Rythmuswechsel, jedem Knick und jedem erneuten Falten ihr Gesicht ändert. Mal Papierhase, der auf der Flucht seine Haken schlägt, mal tapfere Superheldin, die sich schützend vor ihre Schützlinge stellt. "Never seen a hero like me in a sci-fi But I'd save a life if I thought it belonged to you Mary Magdalene would never let her loved ones down". Doch einen Atemzug später fragt sie sich, wie viel von sich selbst sie überhaupt geben kann. Wenn sie den Track mit "I'd be running down the hills to be with you / And I'd have told you I was lonely too" beendet, stolpert an ihrer Seite das Klavier hinterher.

Das mit einem Future-Feature ausgestattete "Holy Terrain" fällt dagegen regelrecht gradlinig und eingängig aus, wirkt wie eine erholsame Pause. Den Ausgang aus "Magdalene" suchte FKA Twigs jedoch gleich zu Beginn. In "Thousand Eyes" gelingt ihr eine ebenso befremdliche wie perfekte Weiterentwicklung von "Preface" auf "LP1". Sie stapelt enyahaft ihre Stimme zu einem mystischen, körperlosen Chor, lässt diesen von tiefsten Bässen und tropfendem Wasser begleiten. "If I walk out the door, it starts our last goodbye / If you don't pull me back, it wakes a thousand eyes."

Trackliste

  1. 1. Thousand Eyes
  2. 2. Home With You
  3. 3. Sad Day
  4. 4. Holy Terrain
  5. 5. Mary Magdalene
  6. 6. Fallen Alien
  7. 7. Mirrored Heart
  8. 8. Daybed
  9. 9. Cellophane

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