laut.de-Kritik

Das erste und beste Gothic-Album der Geschichte.

Review von

Auch mehr als 30 Jahre nach dem tragischen Freitod von Joy Division-Sänger Ian Curtis steht das letzte Album der Band da, wie ein Monolith gewordenes Zeugnis der Musikgeschichte. Eine seltsame Ausstrahlung geht von "Closer" aus, seit das Album mit der Auslieferung an die Plattenläden am 18. Juli 1980 der Öffentlichkeit zu Gehör gebracht wurde. Manche der Texte gewähren tiefe Einblicke in den Gemütszustand ihres Verfassers, kommen einem als Poesie und Musik verpackten künstlerischen Exhibitionismus nahe.

Doch bei aller Seelenschau bleiben sie im Kern stets würdevoll verschlossen, verweigern sich der Vereinnahmung von außen und halten die Zuhörer auf Distanz, wie das gesamte Album auch. Allzu passend erscheint da die auf dem skulpturenbevölkerten Cimitero Monumentale di Staglieno in der italienischen Hafenstadt Genua aufgenommene Fotografie, die das Cover von "Closer" ziert. Stille Anteilnahme und entrückte Unnahbarkeit kulminieren auf bildlicher Ebene. Die einprägsame Fotografie gibt damit die Richtung für die Rezeption des Albums vor.

Wie schwer erarbeitet der Schritt von der punkrotzig aufspielenden Band, hin zur sich in dunkler Emotionalität beinahe verzehrenden Stilikone war, lässt sich erahnen, wenn man den Mitschnitt des Auftritts von Joy Division beim britischen Fernsehsender BBC vom 1. September 1979 betrachtet. In den angestrengten Gesichtern von Drummer Stephen Morris, der verbissen den Takt hält und Gitarrist Bernard Sumner, der stoisch-konzentriert seine Melodie- und Akkordfolgen anschlägt, ist deutlich abzulesen, dass die Band hier hart am Limit ihrer musikalischen Möglichkeiten spielt. Einzig Bassist Peter Hook macht einen den Umständen entsprechenden sicheren Eindruck an seinem Instrument. Die wenigste Mühe mit diesem Entwicklungssprung scheint Ian Curtis zu haben. Er absolviert den größten Teil des Auftritts mit geschlossenen Augen und ist dem Anschein nach ganz bei sich selbst.

"Transmission" und "She's Lost Control" sind als Bilddokument enthalten. Die beiden Songs zeigen einen Auftritt, der einer Gratwanderung gleichkommt. Diese findet ihre Fortsetzung als Joy Division wenige Monate darauf in die Londoner Britannia Row Studios gehen, um nach "Unknown Pleasures" aus dem Jahr 1977 ihr zweites Album "Closer" einzuspielen. Dass aus der zweiwöchigen Recording-Session ein Meisterwerk hervorgehen würde, konnte wohl keiner der Beteiligten ahnen. Auch wenn das Bemühen ein weithin respektiertes Bewerbungsschreiben für die Oberliga des musikalischen Underground abzugeben, aus jeder Note deutlich herausklingt.

Das sperrige "Atrocity Exhibition" eröffnet das lediglich neun Songs umfassende Album. Seinen Titel hat es von einem Buch des amerikanischen Science-Fiction-Autors J.G. Ballard entliehen. Weiterreichende Interpretationen eröffnen sich hier nicht, da Ian Curtis das Buch zwar gelesen und für sehr gut befunden hat, allerdings zu einen Zeitpunkt, als bereits ein Großteil der Lyrics für "Atrocity Exhibition" zu Papier gebracht war. Musikalisch schlägt der Song eine Brücke in die Vergangenheit, zu den von allen Joy Divison-Mitglieder hoch geschätzten Veröffentlichungen von Velvet Underground.

Mit dem nächsten Song "Isolation" lassen Joy Divivson dann aber die Vergangenheit hinter sich und die Katze aus dem Sack. Dissonante Gitarrenakkorde sind zwar hin und wieder auf "Closer" zu hören, wirkliche Bedeutung fällt ihnen aber vor allen Dingen als künstlerische Reibungsfläche zu, von der sich der neue Joy Division-Sound umso deutlicher abhebt. Der erhebt den Synthesizer zum prägenden Stilmittel und macht die Abkehr von der punkigen Vergangenheit deutlich hörbar. Treibende Kraft hinter dieser Weiterentwicklung ist Factory Records-Toningenieur Martin Hannett. Ihn in den Rang eines fünften Bandmitglieds zu erheben, dürfte seiner Bedeutung für "Closer" gerecht werden.

Doch alle Instrumentierung tritt in den Hintergrund, wenn Ian Curtis ins Mikrofon singt und mit seiner einzigartigen Stimme und den vielfach um Tod und Verderben kreisenden Lyriks die Aufmerksamkeit auf sich zieht. "Colony" verweist einmal mehr auf ein literarisches Werk als Grundlage. Dieses Mal ist es Franz Kafkas verstörende Erzählung "In Der Strafkolonie", in deren Zentrum eine Hinrichtungsmaschine steht, die dem Verurteilten sein Vergehen ins Fleisch schneidet, so dass dieser kurz vor seinem Tod seine Verfehlungen erkennt: "God in his wisdom took you by the hand, God in his wisdom made you understand."

Schuld, Tod und Erlösung bilden auch die Fixpunkte, um die Curtis Lyrics für "A Means To An End" kreisen. Minimalistisch in der Instrumentierung, treibend im Groove, bewegend in den Lyrics und leidenschaftlich im Gesang gelingt Joy Divison mit "A Means To An End" einer ihrer größten Songs. Schade nur, dass sich in der Retrospektive viele Exegeten allein mit dem Titel zufrieden gaben und diesen als Vorwegnahme von Ian Curtis' Selbstmord am 18. Mai in seiner Wohnung in Macclesfield bei Manchester deuteten.

Bei "Heart And Soul" zeigt Martin Hennett einmal mehr, was er kann. Effekte verfremden Curtis' Stimme ohne ihr die Eigenheiten zu nehmen. Ein kluger Griff in die Studio-Trickkiste, die den Sound von Joy Division in bislang nicht gekannter Weise nuanciert. Mit dem nervösen "Twenty Four Hours" folgt noch einmal ein Rückgriff auf die Punk-Vergangenheit der vier Jungs aus Manchester, bevor sie mit "The Eternal" und "Decades" zum großen und durchaus etwas schmalzigen Finale ansetzen.

Der Schmalz ist vor allen Dingen den Synthie-Klavierakkorden von "The Eternal" geschuldet, die gleich zu Beginn des Songs ein wenig zu dick auftragen und den einzigen stilistischen Fehlgriff des ganzen Albums darstellen. Anders herum gewendet, könnte die Interpretationslinie von diesem vorsichtigen Pop-Element aber auch direkt zu den Charts-Hits von New Order verlaufen: Ein zartes Pflänzchen, das sich einige Jahre später zur vollen Blüte entwickeln sollte. Kommt eben ganz darauf an, ob man sicher eher als Gruftie oder Synthie-Popper sieht.

In welche Richtung sich Joy Division auch hätten entwickeln können, klingt bei "Decades" mehr als deutlich an. Der Song ist Schluss- und Höhepunkt des Albums zugleich. Ian Curtis Bass-Bariton steht hier so klar und gleichzeitig trauriger Resignation erfülllt im Raum, wie bei keinem anderen Song des Albums. Die schwebenden Synthesizer-Melodien fangen die Intensität, mit der sich Curtis Melancholie hier ihren Weg bahnt, nur im Ansatz auf. In solchen Momenten scheint der Selbstmord als ultimatives künstlerisches Statement nur zu konsequent.

Eine solche Interpretation dient der ikonenhaften Verehrung von Ian Curtis, wie sie bis weit in den 90er Jahren hinein in der Gothic-Szene zum guten Ton gehörte. Sie wird dessen widersprüchlicher Persönlichkeit aber nicht im Ansatz gerecht. Diese hat sich erst in den vergangenen Jahren Gehör verschaffen können: Einmal in Buchform von Ian Curtis Ehefrau Deborah und das andere Mal als Film des Fotografen und Regisseurs Anton Corbijn. Es ist diesen beiden Menschen zu danken, dass die Musik von Joy Division eine menschliche Dimension bekommen hat ohne an der Qualität eines Albums wie "Closer" zu kratzen. Der Monolith bricht vorsichtig auf und zeigt erst jetzt seine ganz Größe. Die letzte Distanz bleibt dennoch.

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. Atrocity Exhibition
  2. 2. Isolation
  3. 3. Passover
  4. 4. Colony
  5. 5. A Means To An End
  6. 6. Heart and Soul
  7. 7. Twenty Four Hours
  8. 8. The Eternal
  9. 9. Decades

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