laut.de-Kritik
Wer so rutscht, muss nicht gehen.
Review von Franz MauererJoy Orbison ist einer der Gründe, warum elektronische Musik zurecht den Anspruch erhebt, das zeitgenössische Genre der Avantgarde zu sein. Seit 2009 pfeffert der Engländer Peter O'Grady seiner Zuhörerschaft 12-Inch um 12-Inch um die Ohren, mit einer atemberaubenden Stilvielfalt. Ein Album gab es aber noch nicht, und "Still Slipping Vol. 1" rutscht herbei, um das zu ändern. Peter sagte schon 2009, er wolle sich Zeit mit seinem ersten Album nehmen. Das hat er dann wohl, und wir sind umso gespannter aufs Ergebnis.
Das Oxymoron im Titel deutet es schon an: Ein richtiger Erstling ist "Still Slipping Vol. 1" dann irgendwie doch nicht, denn der Bezug auf die 2019er EP "Slipping" ist nicht nur im Titel abzusehen. Wie sein de-facto-Vorgänger (und die EP "81b") ist "Still Slipping Vol. 1" eine hochgradig nostalgische Nabelschau, die gar nicht unbedingt zum oft technoiden und kühlen Clubsound von Orbison passen mag. So ist die EP mit mehr Sprachnachrichten-Snippets vollgepackt als der WhatsApp-Account von H.P. Baxxter. Orbisons Mutter, sein Vater, seine Schwester, sein Onkel Ray - selbst Drum'n'Bass-Produzent und kürzlich verstorben - und die Cousinen Lola, Mia und natürlich Leighann, die es sogar aufs Cover schaffte. Für einen Künstler, der höchst selten Interviews gibt, durchaus bemerkenswert, zwar von "Slipping" bekannt, hier allerdings mit größerer Konsequenz durchexerziert.
Neben der versammelten Verwandtenschar wirken noch die vorwiegend britischen Herrschaften Herron, James Massiah, Bathe, Léa Sen, Goya Gumbani und TYSON am Kunstwerk mit, größtenteils langjährige Kollaborateure von Orbison, der sich immer mehr zum Fixpunkt der Londoner Elektroszene mausert. Diese Riesenmeute bettet sich in ein ziemlich homogenes Soundbild ein. Orbison winkt den stampfenden Klubtempeln dieser Welt adieu, um Richtung Mount Kimbie abzubiegen, ohne jemals in den Pop zu gelangen.
"Still Slipping Vol. 1" ist Musik für die abseits gelegene Strandbar auf Ibiza um vier Uhr morgens oder die alte Ruine in Split. Orte, in denen ein suaves Publikum im Einklang mit dem Zeitgeist und erlesenem Geschmack zum Abendabschluss von einer tieftraurigen Scheibe und emotional brutalen Ansagen wie "In Drink" nochmal richtig runtergezogen werden will, während sie aufs Meer schaut. Für den Loungesessel und Kopfhörer sind Songs wie "Glorious Amateurs" jedenfalls viel zu cineastisch ausgelegt. Der sehr eigene Stil ist immer noch in UK Garage, Jungle und House verankert, nimmt aber einen zunehmenden "left-field"-Ansatz und geht damit einen gewaltigen Schritt Richtung Aphex Twin, Luke Vibert oder auch dem frühen Four Tet.
"Still Slipping Vol. 1" merkt man an, dass es ein ernstzunehmendes Album sein will, keine Fingerübung, trotz seines durch die vielen Unterbrechungen fragmentarischen Charakters. Orbison wollte nach eigener Aussage mit seinen Mitteln ein Soul-Album schaffen und irgendwie ist ihm das in seinem Londoner Walworth Window-Studio gelungen. Im Vergleich zum bisherigen Output steht das Album wie "Andorra" in Caribous Oeuvre und besticht durch seine Intimität. Orbison lässt insofern auf seinem Debütalbum die Muskeln spielen, als dass er eine solche Stimmung schaffen kann und einem trotzdem die Reese-Bässe in "Sparko" in die Gedärme boxen.
"Still Slipping Vol. 1" ist der dunkle, weniger spastische, aber sich ebenso völlig frei am Buffet elektronischer Musik bedienende Bruder zu Jai Pauls "Leak 04-13" und fügt sich zu 2021 so gut ein wie Jais Werk zu 2013 passte. Musik für einen Club, den es gar nicht gibt, passt doch ganz offensichtlich gut zu Corona-Zeiten.
Die heimliche Single "Better" erinnert mit Léa Sen schöne Stimme fast schon an Antony Hegarty. Eine klassische, souveräne Housenummer mit Pausen genau da, wo man sie braucht. "Layer 6" ist eine verträumte Drum'n'Bass-Nummer, die unerwartet zum Schluss auflebt, "Runnersz" ist wohl einfach moderne Musik, die Kanye irgendwann bis zur Unkenntlichkeit samplen wird.
"In Drink" ist eines der Highlights der Platte. Nachdem Orbisons Mutter vom Alkoholismus ihrer Eltern spricht, entlässt der DJ den Hörer in eine nicht wirklich hoffnungsfrohe, aber wunderschöne Electronica-Nummer. Auf "Playground" weist Peter mit Goya Gumbani dann noch nach, dass er einen top-shelf-Hip-Hop-Produzenten abgäbe. Locker einer der besten Rapsongs 2021.
"Born Slipping" beschließt das Album mit einem gechoppten Hintergrundhauchen der Gastsängerin TYSON und einem meditativen Beat, dessen Stärken wiederum wie der Songtitelwortwitz weniger in seiner Originalität liegen als in seiner musikalischen Ausarbeitung und Tiefe. Nach "Still Slipping Vol. 1" kennt man Joy Orbison deutlich besser, vor allem aber wächst der Respekt vor einem der Virtuosen elektronischer zeitgenössischer Musik.
2 Kommentare mit 7 Antworten
Nicht mein Genre.
Aber sehr abstoßendes Cover
Na, immerhin!
Das Cover ist großartig?
Ich Liebe dieses Album. Nicht Alltägliches allerlei. Klingt schön verspielt. Mit jedem Anhören wird es im besser.
Ach ja und ich liebe das Cover ????
Burce Lee hat viele Fragen.
Dieser Kommentar wurde vor 3 Jahren durch den Autor entfernt.
Ups das kommt davon, vom schnellen Schreiben
Jaja, pass einfach das nächste Mal auf. Ist aber nicht so schlimm, die zentralen Aussagen waren ja ganz gut herauszulesen.
Bin nicht ganz so schnell in der Birne wie Wiesel, habs dann aber doch kapiert. Die Musik ist gut, das Cover wird mit jedem Anhören beschissener.