laut.de-Kritik
Britischer J-Pop: eine der Überraschungen des Jahres.
Review von Yannik GölzWer schreibt eigentlich Songs über die Gefühle des modernen Lebens, die so alltäglich sind, dass man ihnen nicht mal ein eigenes Wort verliehen hat? So etwas wie genervt zu sein, wenn Freunde sich ständig nicht entscheiden können? Oder die unterschwellige Anspannung, die man in einem Krankenhaus empfindet? Niemand, vermutlich. Zumindest fast niemand. Vielleicht Acts wie Decemberists oder die Mountain Goats. Indierocker oder Poeten eben, die das Leben etwas genauer betrachten.
Den Pop versteht man dagegen eher als ein Am-Schopf-Packen der menschlichen Erfahrung. Intensive Momente, große Höhen und Tiefen, Freudentaumel und Melodrama. Dass mit Kero Kero Bonito nun ausgerechnet eine Gruppe von britischen J-Pop-Blödlern ein Album darüber schreiben, einen freien Tag zu verbummeln, sich unkonkret melancholisch zu fühlen, beim Arzt zu warten oder auf die Absurdität des Lebens mit einem verstrahlten Fernweh zu reagieren, das kommt aus dem Nichts. Und ist eine der positivsten Überraschungen des Jahres.
Was hatten sie auch für eine andere Wahl, um ihr abstrus großartiges Voralbum "Bonito Generation" sinnvoll weiterzuführen? Die Platte, die zwischen Elektropop, PC Music, japanischem Rap und Sesamstraßen-Swagger zu 50 Prozent ein reines Meme war und zu 50 Prozent die beste Sache aller Zeiten, schien das Trio um Sarah, Gus und Jamie dazu zu verdammen, ein Dasein im Schatten ihres Gimmicks zu fristen.
"Time 'N' Place" ist eine Rebellion gegen diese Einordnung. Ein radikaler Drift in Richtung alternativem Rock, Lo-Fi-Electro und experimenteller Spielfreude. Ihr bisheriger Charakter wird nicht über Bord geworfen, aber so passend und originell in ein ganz neues Framing gerückt, dass die Platte unerwartet, frisch und aufregend bleibt. Singles wie "Only Acting" mit eingängigem Pop-Punk-Refrain oder die treibende Beiläufigkeit des elektronischen "Time Today" behalten Kero Kero Bonitos Pop-Appeal, spielen aber gänzlich andere musikalische Ideen aus als zuvor.
Auf "Flyway" und "Outside" grenzt die Produktion an Grunge-Territorium, "Dear Future Self" und "Dump" kokettieren mit Melodien und einer Ästhetik, die an Kinderlieder erinnern. "Sometimes" ist ein Lagerfeuerlied über depressive Episoden. Die musikalischen Ideen auf "Time 'N' Place" sind undefinierbar weit und wenig kohärent, ein roter Faden entsteht in der Alltäglichkeit und Beiläufigkeit, mit der sie performt werden. Es fühlt sich ein wenig an, als wären Kero Kero Bonito mit dem Kopf ganz woanders, während die Musik eine Fassade aufrecht erhält. Was wie eine Kritik klingt, ist vielleicht das zentrale Motiv der Platte.
Zentrum dieses Phänomens bleibt Leadsängerin Sarah Perry, die eine kindlich positive Sicht der Dinge so kompromisslos verkörpert, dass die Einordnung, ob sie nun die naivste und glücklichste oder doch die zynischste Person der Welt ist, schwer fällt. Gerade wenn es auf Songs wie "Sometimes" oder dem wundervoll verlorenen "Swimming" um fast krankhafte Melancholie zu gehen scheint, und sie auf "Only Acting" und "Make Believe" Themen wie Schauspiel und Performanz anschneidet, fühlt ihre Präsenz sich an, als wäre sie das Resultat, den Regisseur David Lynch einen weiblichen Anime-Protagonisten schreiben zu lassen.
Ein ganzes Album im Uncanney Valley also. Tatsächlich ist "Time 'N' Place" verdammt schwer zu greifen. Viel Inhalt versteckt sich irgendwo im Augenwinkel des Subtextes. Manchmal verweisen die Referenzen in völlig verschiedene Richtungen, und manchmal erwischt man sich dabei, die sanften Melodien auf einer oberflächlichen Ebene verdammt ansprechend zu finden.
Für eine Band, die bisher mit ihren Ideen und Einflüssen stets direkt auf die Zwölf gegangen ist, fühlt sich dieses Projekt wie eine Brise an. Verträumt, subtil, unverbindlich und doch so ungreifbar und innovativ, dass die Faszination damit auch Wochen nach Release eher zu- als abnimmt. "Time 'N' Place" ist ein Pop-Album, das auf den ersten Blick irritiert, aber mehr als genug Raum gibt, sich ausgiebig darin zu verlaufen. Sicherlich eine der interessantesten Genre-Erfahrungen des Jahres.
3 Kommentare mit einer Antwort
Dieser Kommentar wurde vor 6 Jahren durch den Autor entfernt.
"...fühlt ihre Präsenz sich an, als wäre sie das Resultat, den Regisseur David Lynch einen weiblichen Anime-Protagonisten schreiben zu lassen."
Bitte nachbessern, sonst wird virpi gleich wütend.
Wut ist mir fremd, ich kenne nur Hass!
Im Ernst: Freut mich, dass das Album hier rezensiert wird, beste Unterhaltungsmusik.
" fühlt ihre Präsenz sich an, als wäre sie das Resultat, den Regisseur David Lynch einen weiblichen Anime-Protagonisten schreiben zu lassen."
hat jemand "perfect blue" gesehen? der hat mich damals hart upgefuckt