laut.de-Kritik

33 mal Lied gewordener Protest; 33 mal voll in die Fresse!

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"Das Gefühl eines Kerls im Ersten Weltkrieg, der dabei ist, aus dem Schützengraben zu stürmen ... und er weiß, dass er in etwa zehn Minuten tot sein wird, und er denkt an diesen Arsch daheim in Westminster, der ihn in diese Situation gebracht hat. Das ist das Gefühl, das wir versuchen rüberzubringen ... den todbringenden Witz."

Mit der Herleitung ihres Namens verrät der charismatische Frontmann Jaz Coleman viel von der kämpferischen Ästhetik der englischen Postpunker. Auch nach 35 Jahren hat die musikalisch vielseitigste Genre-Kapelle keinen Inch ihrer aufrührerischen Konsequenz eingebüßt. Zum runden Wiegenfest gibt es mit "The Singles Collection 1979-2012" einen überragenden Querschnitt ihres hochbegabten Querulantentums. 33 mal Lied gewordener Protest; 33 mal voll in die Fresse!

Alles schön chronologisch aufgebaut für einen faszinierenden Streifzug. Die ersten neun Lieder stammen von den ersten vier LPs. Sehr roh, sehr archaisch im Ausdruck. Der "War Dance" - ein Lieblingsstück von John Peel - macht seinem stammeskriegerischen Namen alle Ehre. Der "Empire Song" gibt den anti-imperialistischen Schlagring für die tief empfundene Gegnerschaft zur damaligen Thatcher-Politik. Mittlerweile ist die Iron Lady den Weg alles irdischen gegangen. Die Jokies hingegen gibt es noch immer. Unbedingter Anspieltipp aus jener Periode: "Follow The Leaders".

Mit solch kompromissloser Nonkonsens-Mucke kam man vor 30 Jahren tatsächlich in die UK- und USA-Charts. Vor allem das für die Szene wegweisende Debüt "Killing Joke" (1979) und das Kultalbum "Fire Dances" (1983) seien jedem Nachzügler ans Herz gelegt.

Mitte der 80er zieht Coleman sich ins unwirtliche Island zurück, und entwickelt vorübergehend recht krude, paranoide und höchst darwinistische Weltuntergangsthesen. Der in britischer Subkultur wie Feuilleton gleichermaßen hochverehrte Bassist Youth (Martin Glover) geht derweil funky Dub-Solopfade. Die übrigen Freunde bündeln sich erstaunlicherweise zu KJs zugänglichster Phase.

Sie mündet 1985 im ewigen Überhit "A Love Like Blood" (vom Goth-Meilenstein "Night Time" 1985). Das rauhe Riffing von Kevin Walkers Gitarre erhält einen anmutigen Gothic-Anstrich. Der Bass scheint aus den Tiefen der Hölle zu kommen, und Coleman Vocals geben den weltschmerzerfüllten Schamanen. Mittlerweile lebt der charismatische Sänger im kuscheligen Neuseeland und predigt dort als ordinierter Priester. "Till the fearless come and the act is done/A love like blood, a love like blood!"

Das für Killing Joke-Verhältnisse nahezu poppige Folgealbum "Brighter Than A Thousand Suns" (1986) geht den eingeschlagenen Weg konsequent weiter, ohne die gewohnte gesellschaftskritische Schärfe einzubüßen. Bis heute in Fankreisen hoch umstritten, enthält es perfekt pointierte 80er-Hymnen wie das hier vertretene "Sanity". "Inocence will fade away like Autumn / Likewise the dream of youth / For sanity's sake, sanity's sake, sanity's sake!" Der poetisch perfekte Popsong! Weiterer Anspieltipp: Die auch für Smiths-Fans hervorragend geeignete Waveperle "My Love Of This Island" von Colemans Conny Plank-Hommage "Outside The Gates" (1988)

Disk Nr. 2 eröffnet mit den beiden Auskopplungen des rotzigen 1990er Wutklumpens "Extremities, Dirt & Various Repressed Emotions". Der Name ist auch musikalisch Programm. Ein großartiges Album markiert die Rückkehr zu Disharmonie und geballter "Fuck You"-Faust. Wie ein Dentalbohrer drillt sich das herrlich fiese "Money Is Not Our God" in die Ohrmuschel. "Will you swap your hi-fi for a clear blue sky?/Will you cash in all your shares for Gods clean air?" Sie sind zurück wie ein Bulldozer!

Aus dem hochgradig eleganten und extrem pointierten Superalbum "Pandemonium" (1994) gibt es gleich vier fette Tracks. Der verlorene Sohn Youth ist endlich zurück und trägt als Produzent viel zur Klarheit der Songs bei. In "Exorcism" kotzt sich Coleman nicht nur im übertragenen Sinne sondern wortwörtlich aus. Und solch eine misanthropische Gitarrenwand zu exotischem Hintergrundsound wie in "Millennium" oder dem Titelsong ließ auch in der Hochphase des Industrialrock Poser wie Marilyn Manson aussehen wie verkleidete Kellner.

Für das infernalische "Loose Cannon" (Killing Joke 2003) schnappen sie sich Edelfan Dave Grohl an den Drums, der auch kurzzeitig als festes Mitglied geführt wird. Das knackig elektronische Bonbon "European Super State" ("Absolute Dissent" 2010) ist die erste Single nach dem Tod von Gründungsmitglied Paul Raven und nimmt die derzeitige Europakrise bereits hellseherisch vorweg.

Mit den aktuellen Liedern "In Cythera" (MMXII; 2012) geht es dann mit viel Melodie back to the Wave Roots. Nach dieser akustischen Tour de Force ist man ebenso ausgezehrt wie beglückt. Eine der wenigen "Best Of" Sammlungen ohne jede Halbwertszeit.

Trackliste

CD 1

  1. 1. Nervous System
  2. 2. Wardance
  3. 3. Requiem
  4. 4. Follow The Leaders
  5. 5. Empire Song
  6. 6. Chop Chop
  7. 7. Birds Of A Feather
  8. 8. Let's All Go (To The Fire Dances)
  9. 9. Me Or You?
  10. 10. Eighties
  11. 11. A New Day
  12. 12. Love Like Blood
  13. 13. Kings And Queens
  14. 14. Adorations
  15. 15. Sanity
  16. 16. America
  17. 17. My Love Of This Land

CD 2

  1. 1. The Beautiful Dead
  2. 2. Money Is Not Our God
  3. 3. Exorcism
  4. 4. Millennium
  5. 5. Pandemonium
  6. 6. Jana
  7. 7. Democracy
  8. 8. Loose Cannon
  9. 9. Seeing Red
  10. 10. Hosannas From The Basements Of Hell
  11. 11. In Excelsis
  12. 12. Fresh Fever From The Skies
  13. 13. European Super State
  14. 14. Ghosts Of Ladbroke Grove
  15. 15. In Cythera
  16. 16. Corporate Elect

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