laut.de-Kritik

Country. Folk. Trennung. Lockdown. B-Seiten. Feelings. Lana.

Review von

"What if someone had asked Picasso not to be sad?" – Wir wissen es nicht. Was wir wissen: Auch 2021 gehen Traurigkeit und Produktivität im Hause Del Rey Hand in Hand. Vielleicht mehr denn je, ist es doch schon das zweite Album der 36-jährigen Queen of Drama and Americana in diesem Jahr.

2017 noch schwor uns die Radiohead-Hommage "Get Free" auf eine glückseligere Zukunft ein. "Out of the black into the blue" lautete damals der hoffnungsvolle Fahrplan Richtung Optimismus. Auf "Beautiful" verspricht Del Rey nun: "I can turn blue into something". Was auch immer es ist, das sich diesmal hinter den Farbcodes verbirgt: Nach leichtfüßigen Heile-Welt-Versprechen klingt "Blue Banisters" ebenso wenig wie seine Vorgänger.

Denn wie immer gibt es einige Misslichkeiten zu besingen: Die Familie und die Verflossenen, die Heimat und das Virus. "Blue Banisters" ist Trennungs-, Lockdown- und B-Seiten-Album gleichzeitig. Mit dem Versprechen "ihre eigene Story" zu erzählen, entführt uns Lana schon in den ersten beiden Tracks von Bentwood nach Oklahoma, gleitet aus dem "Text Book" heraus hinein in einen Fiebertraum, der musikalisches und innertextuelles Zeitgefühl für die nächsten 65 Minuten den North Canadian River hinunterspült.

Unangefochtene Großtat des Albums ist und bleibt die Vorabsingle "Arcadia", die nicht nur vorgekaute "Video Games"-Assoziationen, sondern auch Erinnerungen an die bravouröse "Ultraviolence"-Ballade "Old Money" weckt. Die Zeile "My body is a map of L.A." setzt die Segel für die Überfahrt durch ein Meer aus anthropologisch-geografischen Allegorien, die den Eindruck einer Form der Selbsttherapie erwecken (wir erinnern uns an Skandälchen-Statement und frisch gelöschte Social-Media-Accounts). Doch das Fahrwasser bleibt – wenig überraschend – ein unruhiges: "I'll pray for ya / But you'll need a miracle / America".

Dabei sind es zunächst einmal gar nicht die blumigen Metaphern, die "Blue Banisters" zu einem weiteren spannenden Kapitel im Buche Lana Del Rey macht. Das Setting: mal wieder ein Anderes. Nicht der Psych von "Ultraviolence". Nicht die Trap-Anleihen von "Lust For Life". Nicht der Edelpop von "Norman Fucking Rockwell". Nein, Folk und Country sollen es diesmal sein. Aber sie muss das Ergebnis nicht erzwingen. Schon "Chemtrails Over The Country Club" verfloss sich in der zweiten Hälfte in angenehm langatmige Outlaw-Tunes, die sich hier nun in voller Blüte auftun.

Viele der perkussionsfreien Nummern spielen ganz bewusst mit dem Gefühl, die Musik sei hier nur Begleitwerk für den Gesang – nur um zwei Minuten später das genaue Gegenteil zu vermitteln. Das lässt "Blue Banisters" Raum und klingt dabei nicht einmalig eintönig. Im Gegenteil: Windschiefe Bläser ("If You Lie Down With Me") und heulende Gitarren-Harps ("Living Legend") stehen Lana bestens.

Nachdem zwei ihrer stärksten Alben (und zuletzt auch hörbare Überschneidungen mit Lordes "Solar Power") aufs Konto von Tausendsassa-Produzent Jack Antonoff gingen, profitiert Lana hier vom weniger starren Pop-Korsett, das ausladende Folk-Momente auf "Chemtrails" weitestgehend zu verhindern wusste. Wie schön, dass wir beide Varianten zu hören bekommen.

Erstmals im offiziellen Rahmen zu hören sind auch eine Vielzahl seit Jahren geleakter Tracks. Deren massive Präsenz auf "Blue Banisters" könnte zunächst einmal den Eindruck einer Patchwork-Compilation erwecken, wäre da nicht das überwiegend homogene Klangbild – vom zumindest befremdlichen Morricone-Trap-Interludium einmal abgesehen.

Dank teils einer Dekade zurückliegender Ursprünge von Songs wie "Cherry Blossom", "Living Legend", und "Nectar Of The Gods" gelingt es Lana auf ihrem achten Studioalbum, über ehemalige Partner zu singen und gleichzeitig gemeinsam mit Ex Barrie-James O'Neill zu hören zu sein ("If You Lie Down With Me"). Und da die dauerfleißige Musikerin nicht nur ein paar Songs, sondern ganze unveröffentlichte Alben in der Schublade liegen hat, packt sie sogar zwei Tracks eines sagenumwobenen Kollaborationsalbums mit The Last Shadow Puppets dazu. Neben dem melancholisch-beschwingten "Thunder" sorgt dabei insbesondere "Dealer" mit dem Wechsel zwischen Miles Kane und Lanas unkonventionellen Kreischgesang für einen obskuren, aber eindringlichen Moment.

Mal mit direkteren, mal mit indirekten Bezügen hangelt man sich so durch die Familiengeschichte der Elizabeth "Lizzy" Grant, bestaunt, wie sie in "Violets For Roses" den ewig andauernden Kampf zwischen Lebensfreude und Liebesglück in blumige Metaphern kleidet und vermag dabei nicht immer alle Tiefen und Untiefen ihrer stets 60s-Americana geschwängerten Lyrik zu durchblicken – oder zumindest nicht, warum neben dem viel zitierten Thunderbird jetzt auch noch Toyota und Land Rover einen Parkplatz finden.

Platz bietet "Blue Banisters" daneben auch für gewohnte Daddy-Issues ("Text Book"), schwierige Mutter-Tochter-Beziehungen, Lockdown-Eskapismus ("Black Bathing Suit", mit sexy flachen Jazzdrums!) und das Feiern einer neuen Familiengeneration ("Sweet Carolina", mit Vater und Schwester Grant als Co-Songwritern). Und der Country? Tja, der ist irgendwie immer da, insbesondere im landschaftlich geprägten Storytelling.

Parallelen zum damals bereits deutlich reduzierten "Honeymoon" sind da, doch trotz erhabener Refrains von Weltklasse ("Wildflower Wildfire") entsendet "Blue Banisters" mehr Vibes für herbstliche Kopfhörer-Andachten denn für beschwipste Beachclub-Sonnenuntergänge. Alles wie immer also im Hause Del Rey. Nur eben ganz anders.

Trackliste

  1. 1. Text Book
  2. 2. Blue Banisters
  3. 3. Arcadia
  4. 4. Interlude - The Trio
  5. 5. Black Bathing Suit
  6. 6. If You Lie Down With Me
  7. 7. Beautiful
  8. 8. Violets For Roses
  9. 9. Dealer
  10. 10. Thunder
  11. 11. Wildflower Wildfire
  12. 12. Nectar Of The Gods
  13. 13. Living Legend
  14. 14. Cherry Blossom
  15. 15. Sweet Carolina

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