laut.de-Kritik
Auf dass seine Stimme nie verklingt.
Review von Michael SchuhEr überlebte mit Layne Stayley von Alice In Chains, Kurt Cobain und Chris Cornell drei Galionsfiguren der Grunge-Ära, und niemand wunderte sich darüber mehr als er selbst. Erst durch Mark Lanegans Bücher "Sing Backwards And Weep" (2020) und "Devil In A Coma" (2022) erfuhr man von den zahlreichen weiteren Berührungen mit Todesfällen im privaten Umfeld, begonnen beim Tod seines ungeborenen Kindes.
2004 sah es kurz so aus, als sei Mark Lanegans Leben wieder heller. Zwar hatte der damals 39-Jährige gerade eine Scheidung hinter sich, aber er war schon eine Zeitlang clean und der junge Aushilfsgitarrist der finalen Screaming Trees-Phase, Josh Homme, lud Lanegan schon zwei Jahre zuvor auf Tour und ins Studio ein - zufällig zum QOTSA-Meilenstein "Songs For The Deaf". Ein Schub für Lanegans Karriere, von dessen Soloalben bis dato noch weniger Leute gehört hatten als von seiner erwähnten Ex-Grunge-Band.
2004 fuhr er die verdiente Ernte ein mit dem immer noch wunderbar anzuhörenden Album "Bubblegum". Schon das Namedropping der Gästeliste holte damals jeden Alternative-Rock-Fan ab: Homme, Nick Oliveri, Izzy Stradlin, Duff McKagan, Chris Goss, Alain Johannes, Dean Ween und natürlich die Queen PJ Harvey (die Kollabo "Hit The City" erreicht Platz 76 der UK-Charts).
Sein immer noch erschütternder Tod mit 57 Jahren, hervorgerufen mutmaßlich durch die unselige Verbindung von Covid-19-Langzeitfolgen und lebenslanger Suchtabhängigkeit, verleiht seiner Musik hier und da eine noch tragischere Note. Die liebevolle Detailarbeit, die in die Jubiläumsedition namens "Bubblegum XX" gesteckt wurde, macht die Trauer dennoch erträglicher. Neben den bekannten Albumtracks warten zwölf unveröffentlichte Songs auf den Fan.
Zur 4-LP-Edition gesellt sich außerdem ein 64-seitiges Buch, das mir zwar leider nicht vorliegt, für in Trauerbewältigung geübte Fans aber sicher bittersüße Essays von einigen der oben genannten Freunde und Kollaborateure sowie unzählige Fotos bereit hält. Selbstverständlich lässt die Musik alleine schon genug Bilder im Kopf entstehen. "Bubblegum" war auch eine Reise in die Wüste Kaliforniens, wo das Album in Palm Desert entstand und dementsprechend viele QOTSA-Vibes versprüht ("Methamphetamine Blues", "Driving Death Valley Blues"). Es ist so randvoll mit Klassikern, dass einen die darauffolgende achtjährige Schaffenspause kaum wundert, Lanegan hatte sich fürs erste leergesungen.
Trotz der Rückkehr zum Rock'n'Roll glänzt er gerade wieder in seiner Paradedisziplin Balladen. Das magische "Come To Me" mit PJ Harvey wird nur getoppt vom ewigen Lanegan-Klassiker "One Hundred Days", einem faszinierend-schwermütigen Depri-Brocken gespickt mit Sehnsucht, der nach ganz altem Singer/Songwriter-Klassiker klingt. Hier entlädt sich all die Bewunderung Lanegans für Folk-Idole wie Tim Buckley, minimalistisch wiegen sich die gerade einmal zwei Akkorde hin und her wie das Schiff auf dem Wasser, von dem er singt.
"Strange Religion" dagegen ist ein bewegender Abschiedssong an seine scheidende Partnerin, "meine Dankbarkeit für die emotionale Intensität, die sie in mir hervorbrachte, zu einer Zeit, als ich mich innerlich tot und unfähig fühlte, jemals wieder zu lieben", wie Lanegan in seinem Notizbuch "Sleevenotes" ausführte, in dem er einige seiner Songs näher beleuchtete. Offenbar mit einem ähnlich dunklen Sinn für Humor ausgestattet, sang seine Ex-Frau mit ihm dennoch in einem Song namens "Wedding Dress" noch die Zeile "We got buried in a fever" ein - eine gallige Referenz an die Johnny Cash-Zeile "We got married in a fever" aus "Jackson". Schluchz.
Überhaupt sah es in Lanegan im Jahr 2004 nicht so sonnig aus, wie es für die Außenwelt den Anschein hatte. "Morning Glory Wine" ist einer ehemaligen Partnerin Mitte der 90er Jahre gewidmet, mit der er eine heftige Cracksucht teilte und die von einem Tag auf den anderen vom Erdboden verschwand. Erst Jahre später erfuhr der Sänger, dass sie Opfer eines Serienkillers wurde.
Schon der Opener "When Your Number Isn't Up" behandelt ein Topic, an das er sich jahrelang nicht heran traute: Den Tod seines "kleinen Bruders" Kurt Cobain. Wie er erst in seiner Autobiographie verriet, wählte der Nirvana-Sänger am Tag seines Todes noch Lanegans Nummer, doch der ließ den Anrufbeantworter anspringen und blieb zugedröhnt liegen. Die Lyrics verraten diese Story nicht, sie sind lediglich Ausdruck "von Trauer, Reue, Scham, Verlust und den Schuldgefühlen eines Überlebenden" (Lanegan).
Wie bei Johnny Cashs "Unearthed" legte man sich auch für "Bubblegum XX" mächtig ins Zeug, um Outtakes, Demos und nachträglich finalisierte Versionen zu versammeln. So war der Akustik-Blues "Union Tombstone" mit Beck zwar damals für "Bubblegum" Vorgesehen, doch der "Odelay"-Star musste aus Zeitgründen passen und der Song landete in den Archiven. Für die Wiederveröffentlichung ergänzte Beck nun seine Parts und ein wunderbares Harp-Solo.
Ein schöner Fund ist auch die "Hit The City"-B-Seite "Mirrored", auf der sein dröhnender Bariton über eine zarte Akustikgitarrenmelodie wandelt, wie der Drogenabhängige in den Lyrics: "Here's where you learn something / What makes the marionette dance on silver strings."
QOTSA-Gitarrist Troy Van Leeuwen überrascht mit dem Fund einiger Hotelzimmer-Sessions, die er mit Lanegan Mitte der Nullerjahre abgehalten und aufgenommen hatte: "Diese Hotelsessions waren im Grunde vergessen. Als ich von Marks Tod erfuhr, kamen die Erinnerungen zurück. Ich durchsuchte meine alten Festplatten und konnte die Aufnahmen auf wundersame Weise tatsächlich finden und öffnen. Sowas passiert nie, dachte ich." Wohl wahr. Die leider nur sechs Songs vermitteln das Gefühl, als säße man noch ein letztes Mal mit Mark zusammen, und er spielt einem auf der Akustischen seine Lieblingssongs vor (etwa Johnny Cashs "You Wild Colorado").
Bleibt zu hoffen, dass das Mark Lanegan Estate weiterhin in die Archive hinabsteigt, wie es die Nachlassverwalter weitaus populärerer Musiker in der Regel tun. Auf dass seine Stimme nie verklingt.
1 Kommentar mit einer Antwort
War damals mein Einstieg in seine Musik, und bis heute finde ich, daß keine seiner Scheiben so viel Freude beim Durchhören macht. Viel spontane Kreativität, Energie, Unberechenbarkeit.
4/5
Ja, war bei mir auch so, wenn man seine Zeit als festes Mitglied bei QotSA nicht zählt. Die Gastbeiträge machen auch einen Teil der Qualität aus.