laut.de-Kritik
Großes Songs, großes Orchester und ein großer Kämpfer.
Review von Ulf KubankeMidge Ure steht seit längerem vor einem Dilemma. Einerseits verkörpert er aufgrund seines Wirkens mit Ultravox und seinem Solo-Song "If I Was" lebende Musikgeschichte. Er gilt zurecht als einer der Hauptarchitekten anspruchsvollen 80er-Pops, der mit cleverem Songwriting und ansprechenden Arrangements glänzte. Andererseits müht sich der Ausnahmesänger seitdem vergeblich, mit späteren Veröffentlichungen mehr als einen Bruchteil damaliger Aufmerksamkeit zu ergattern. "Orchestrated" bietet ihm einen Ausweg aus der Misere. Ure schnappt sich seine Klassiker, arrangiert sie um und stellt die Lieder in einen orchestralen Rahmen.
Das Know-How, keine stereotype Klassik-Soße abzuliefern, hat er ohnehin. Immerhin gehört der Schotte zu jenem Kreis, dem Conny Plank das Handwerkszeug beibrachte. Ure hat seine Fähigkeiten seitdem in Eigenregie deutlich verfeinert und zeigt sich dem ehrgeizigen Projekt gewachsen. Das Ergebnis steht jenseits genormter Greatest Hits-Sampler und ringt den Evergreens sogar ein paar neue Nuancen ab.
Dabei konzentriert er sich auf Ultravox, ein paar eigene Stücke, und schleust nebenbei mit "Ordinary Man" einen brandneuen Track ein. Letzterer hebt sich wohltuend vom üblichen Füllmaterial solcher Projekte ab. Als Lehrstück in Sachen Spannungsbogen schießt Ure eine hochemotionale Ballade aus der Hüfte, die anmutig zwischen Verhaltenheit und totalem Pomp pendelt.
Dass der begeisterte Hobbykoch in früheren Tagen ein leider ebenso passionierter Trinker war, hört man seinen Stimmbändern in einigen Momenten durchaus an. So manche Strophe wirft die bange Frage auf, ob er angesichts des mächtigen instrumentalen Klangkörpers noch genug Luft für den jeweiligen Chorus besitzt. Interessanterweise führt dies nicht zum ästhetischen Makel, sondern steigert die Intensität seiner Darbietung sogar noch. Mit dem Herzen eines Highlanders kämpft er sich in jeden Song und fährt einen beeindruckenden Sieg über das Alter und gesundheitliche Abnutzungserscheinungen ein. Drama, Baby, Drama!
Weitgehend übersehene Solonummern wie das Titelstück seines 2014er-Albums "Fragile" oder "Breathe" vom gleichnamigen 1996er-Werk fügen sich nahtlos ins Gesamtgefüge. Gegen den Killer "If I Was" bleiben sie dennoch chancenlos. Der Dreiklang aus Streichern, Percussion und einem effektiv eingesetzten Piano hievt den Hit noch einmal zurück auf den Gipfel eigener Ausstrahlung.
Der Rest steht ganz und gar im Zeichen von Ultravox. Man kommt aus der Verzückung nicht mehr heraus. Sogar jene, die mit Blick auf die originale John Foxx-Inkarnation Ure gern als Kommerzkasper abtun, entkommen der Erkenntnis nicht: Das hier sind verdammt große Songs! Man höre nur, wie er "The Voice" im Verlauf haarscharf an die Grenze der Überladenheit führt und den edlen Chorus mittels melancholischer Färbung aufpoliert.
Jedes Stück ist ein Gewinn. So erweist sich "Lament" als noch intensiver als das Original. Ähnlich erhebend erfindet er seine "Hymn" neu. Ihr Kehrreim war schon immer eines der charismatischsten Popstücke der damaligen Dekade. Jetzt schreit es geradezu danach, in Epen wie "Braveheart", "Troja" oder "Game Of Thrones" Verwendung zu finden. Sogar das ehemals etwas glatt geratene Signaturstück "Dancing With Tears In My Eyes" befreit er in einem Arrangement, dass sich komplett auf Ures Stimme und die tragischen Zeilen fokussiert. "Waiting for a memory of a love that died ..." Das alles bietet im wahrsten Sinne des Wortes großes Theater. Indes verblasst alles gegen "Vienna", das alles andere restlos in den Schatten stellt.
"Vienna" ist nicht nur Midge Ures mystischer Übersong. Das dramatische Nachtlied markiert einen der strahlendsten Punkte des New Waves. Sein Arrangement besticht auch hier mit einem geschickten Spiel organischer Klänge und synthetischen Tönen. In einer Zeit, die noch nichts wusste von späteren Midi-Schnittstellen, stellte die aufwändige, sehr vielschichtige Produktion des Liedes eine herausragende Leistung dar. Deshalb klingt es auch heute noch frisch.
Der Titel des Songs hat allerdings nichts mit Austrias Hauptstadt zu tun. Während der Suche nach Inspiration geriet Ure an die Frau des Ultravox-Managers. Diese schlug vor, dass er "Rhiannon", eine Figur aus der keltischen Mythologie, heranziehen möge. Die Pointe: Leider verwechselte sie den Namen "Rhiannon" mit "Vienna".
Ure fand diesen kleinen Fauxpas so unterhaltsam, dass er davon tatsächlich zu einem kryptischen Text inspiriert wurde, dessen humoristischen Ursprung Ultravox gleichwohl im Dunkel hielten. Nach außen hin erdachten sie etliche ausgedachte Fake-Herleitungen, die von den Medien begeistert aufgegriffen wurden. "This means nothing to me, oh Vienna."
2 Kommentare
Man muss sich reinhören aber es ist wirklich gut arrangiert und die Songs sind über jeden zweifel erhaben. Vienna sowieso.
Redigiert bei euch eigentlich irgendjemand? "Großes Songs"?