laut.de-Kritik
Ein Highlight des 20. Jahrhunderts.
Review von Ulf KubankeAls Fusion bezeichnet man eine Reaktion, bei der zwei Atomkerne zu einem neuen Kern verschmelzen. Ist "Bitches Brew" diese Geburtsstunde des Fusion aka Jazzrock? Die Frage ist so alt und umstritten wie das Album selbst. Doch das Ergebnis kann freilich nur folgendermaßen lauten: Es ist vor allem die Verschmelzung vom Kern des Rock mit dem Jazz zu ihrer Majestät The Prince of Darkness Miles Davis höchstpersönlich.
Es ist keine Übertreibung, wenn man diese legendäre Doppel-LP zum 40. Geburtstag als eine der wichtigsten Schallplatten des 20. Jahrhunderts bezeichnet, auf einer Stufe mit Miles' Überalbum "Kind Of Blue" von 1958. Ebenso besessen von harten Drogen, Alkohol und Strawinskys "Frühlingsopfer" wie beseelt von Jimi Hendrix, James Brown und Sly Stone fördert das Genie aus den morastigen Sümpfen seiner damals vergifteten
Psyche einen bedrohlichen Monolithen zu Tage, der die Grenzen zwischen Jazz, Funk und Rock für immer beseitigte. Psychedelic Electric Jazz!
Nun erscheint das Luder-Gebräu standesgemäß in mehreren Editionen, von der schlanken CD/DVD-Kombination bis hin zum luxuriösen Sixpack für den Hardcore-Fan. Ganz egal, welche Variante man für sich erwählt, allen ist eines gemein: Sie enthalten mit der Kern-LP jenes Quentchen Schlampen-Sud, das erstmalig in der modernen Musikgeschichte Einzelteile zu einem nahezu lebendig klingenden Organismus fügt.
Wer das für übertrieben hält, sollte es am eigenen Leibe erproben. Die Platte windet sich schlangengleich in die Gehörgänge und war seiner Zeit damals um Längen voraus. Doch das ist längst nicht alles. Selbst nach vielen Jahren intensiven Genusses entdeckt man noch immer neue Facetten und Nuancen im Sound.
Ebenso eigenständig funktionieren die einzelnen Songs als gänzlich separate Pforten auditiver Wahrnehmung. Im Titelstück beispielsweise fordert der Schamane vom Ostufer des Mississippi sein Orchester mit noisigen Trompetenstößen heraus. Die fast surreal traumhafte Genie-Band mit den späteren Ikonen Joe Zawinul, Dave DeJohnette, Chick Corea, Dave Holland, Wayne Shorter und John McLaughlin kontert in freien Akkorden und umzingelt das aggressiv lodernde Horn mit einer polyrhythmischen Dopewolke bis zur finalen Verschmelzung.
"Spanish Key"/"John McLaughlin" rockt nachfolgend als funky Mikrokosmos im afrikanisch schillernden Offbeat-Mantel, der einen feurigen Latin-Kern in sich birgt. Bis hin zu McLaughlins einmalig sprödem Solo, in dem er folgerichtig ein bluesiges Thema mit der gegenläufigen Dynamik einer Gypsy-Jazz-Gitarre anschlägt.
Einsamer Höhepunkt ist das seinen Namen beträchtlich ehrende "Miles Runs The Voodoo Down". Ein gemächlich hinkendes New Orleans-/Blues-Thema kocht rasch auf zum groovy zuckenden Dschungel, randvoll mit tollwütig kreischenden Soli und kreisenden Rhythmen. Gemeinsam umschwärmen sie eine erdend konstante Basslinie wie Pole-Dancer ihre Stange. Alle Tracks verfügen dabei über das Paradox eines sperrig-eruptiven gleichwohl flächig fließenden Spannungsbogens, den Davis nach Belieben anschwellen und abflauen lässt.
Eben dieses ständige Jonglieren mit den scheinbaren Gegensätzen macht es dem Hörer beim anfänglichen Lauschen der Platte zunächst nicht ganz leicht. Doch nach wiederholten Durchläufen verwandeln sich die Klänge in pures, akustisches Opium.
Mit der Musik gewordenen Lavalampe "Great Expectations" erfindet Miles nebenbei eine Art psychedelischen Wah Wah-Mantra-Jazz, dessen repetitives Dreiklangmotiv eine ins Blut gehende Trompete vorgeträgt. Es gibt kein Entrinnen.
Und mit dem im Albumkontext fast schon aufreizend entspannten Ruhepol "Sanctuary" erschafft die Band ein Auge des Sturms, das noch einmal lässig den Miles Davis als smart-tiefblauen Balladenkönig vergangener Tage herauf beschwört. Dennoch ist das im Jahre 1970 aus heutiger Sicht schier unvorstellbare 500.000 Mal verkaufte Hauptwerk bei weitem nicht der einzige Anschaffungsgrund.
Alle Editionen verfügen erstmals über eine DVD mit dem legendär grandiosen Kopenhagener Gig im Tivoli 1969. Kaum zu glauben, aber es mussten tatsächlich mehr als vier Jahrzehnte ins Land gehen, damit dieser gesuchte Auftritt endlich regulär erhältlich ist und das Schattenreich überteuerter Bootlegs verlassen darf.
Das ebenfalls epochale, intensive, farbenfrohe und leicht entrückt wirkende Cover von Mati Klarwein, der u.a. auch Santanas "Abraxas" gestaltete, verleiht dem seltsam tönenden Opus ein mehr als würdiges und stilbildendes Antlitz.
Und zu guter letzt hat der Mann aus East St. Louis mit "Bitches Brew" nicht nur Musikgeschichte geschrieben. Nein, er hat nebenbei auch ein ganz persönliches Ziel erreicht. Durch sein neuartiges Trompetenspiel hat Miles Dewey Davis III mit den seit 1956 durch eine Operation ruinierten Stimmbändern endlich etwas längst verloren Geglaubtes zurück erobert: Den Klang einer eigenen Stimme.
16 Kommentare
Wenn ich Glück habe, bekomm ichs zu Weihnachten .
Nebenbei bemerkt eine sehr shcöne Rezension Herr Anwalt .
Das Box Set will, nein MUSS ich haben. Sollte der Weihnachtsonkel das nicht im Gepäck haben, wirds direkt nach den Feiertagen bestellt. Ein muss für jeden Musikfreund der etwas auf sich hält.
vom sound her bleib ich bei meinem vinyl rip, aber die bonus cds hören sich sehr saftig an.
tolle kritik
nur am rande:
es is jack dejohnette und nicht dave
@catweazle
ich hatte ja nun erwartet, wegen meines Posting mal direkt ordentlich auf die Ohren zu bekommen...Cool zu sehen, daß es hier doch noch sachliche Postings gibt. Frohes neues Jahr!
Schöne Review.
Das Ende ist dann aber etwas unschön : Miles hat spätestens mit seinem sensationellen Auftritt auf dem Newport Jazz Festival 1955 seine Stimme auf der Trompete gefunden. Eine Stimme, wie sie damals in ihrer Ausdruckskraft, an Zartheit und Verletzlichkeit zuvor ungehörte Dimensionen erschloss.
Damals hatte er allerdings noch eine verwendbare Sprechstimme ...
Ich bin mehrere Monate um die 40er-Edition rumscharwenzelt, aber bis auf die DVD hab ich alles schon ... Hoffe jetzt, dass es die auch mal separat gibt.
Was den Jazz-Rock/die Fusion betrifft: Miles entfernt sich rhythmisch und klanglich dermaßen weit von allem, was vorher im Jazz gespielt wurde - er übernimmt die im Rock verwendeten elektrischen Instrumente, verwendet elektrische Funk-Bässe und binäre Rhythmen aus Rock und Soul -, dass man nicht wirklich von Jazz reden kann. Entsprechend waren dann auch die Reaktionen in der Jazz-Community. Andererseits ist das weitgehend improvisierte Musik, brodelnd und für das ungewohnte Ohr chaotisch, besonders live, wo die Improvisationen dem Free Jazz mehr als nur streifen.
Obwohl er das nicht angestrebt hatte, wurde Miles damit für die hippe weiße (psychedelische/progressive) Rock-Community hörbar. Jazzrock ist aber in seiner Begrenztheit ein unglücklicher Begriff; und Fusion hat im Laufe der 70er den Beigeschmack von perfekt gespielter, arschglatter, seelenloser (Fahrstuhl-)Musik bekommen. Ulf hat das schon ganz gut formuliert: Electric Jazz. Bei Miles definitiv auch psychedelisch. "Brew" ist schon ein gut gewählter Titel: eine Melange aus so vielen verschiedenen Elementen, Einflüssen, Stimmen, die sich zu etwas ganz Neuem verbinden, das viel mehr ist als die Summe der Einzelnen. Ein brodelnder Morast, aus dem sich dann und wann eine einzelne Stimme erhebt, um wieder darin zu versinken. Wie das Bewusstsein des seinerzeit meist psychopharmakologisch erfahrenen Hörers.
Bestes Album aller Zeiten.
Ach so: "Dreiklang" ist der Ausdruck im Deutschen für Akkord; besser "Dreitonmotiv" wählen. Ansonsten hast du natürlich in allem Recht, Ulf!