laut.de-Kritik

Mit Plastik & Pomp der 2000er zurück zur eigenen Würde.

Review von

Kaum zu glauben: "Miss E...So Addictive" feiert in diesem Jahr das 20. Jubiläum. Es ist also bereits zwei Dekaden her, dass Miss Demeanor aka Missy Elliott mit "Get Ur Freak On" der ganzen Welt vor Augen führte, dass 'sich gut fühlen' und 'gut aussehen' absolut nichts miteinander zu tun haben müssen. Höchste Zeit also, diese Ikone der Pop-Kultur zu würdigen.

Natürlich lässt sich darüber streiten, ob "So Addictive" dafür das beste Album ist. Schließlich hat Ms. Elliott bereits in den Neunzigern mit ihrem Debüt "Supa Dupa Fly" für Furore gesorgt. Und nein, ihr drittes Studioalbum ist auch nicht ihr erfolgreichstes. Erst der Nachfolger "Under Construction" sollte zu ihrem meistverkauftesten Album werden, und gleichzeitig auch zum meistverkauften Album einer Female MC überhaupt. Jedenfalls bis Nicki Minaj mit "Pink Friday" um die Ecke kam.

Warum wird hier also "So Addictive" geehrt? Sind wir ehrlich: Zeitlos ist das Album nicht gerade. Es quillt über vor lauter Plastik und Pomp der Nuller-Jahre, die Songs geraten zuweilen etwas langatmig, und es gibt auch ein paar Filler, auf die man gut und gerne hätte verzichten dürfen, das recht monoton geratene "Slap! Slap! Slap!" zum Beispiel. Doch trotzdem, vielleicht auch gerade deswegen, gilt "So Addictive" als herausragendes Werk.

Missys drittes Album bildet die ureigene Verkörperung ihres so charakteristischen Sounds und positioniert sich gleichermaßen als Wegweiser für die Popästhetik der Zweitausender. "So Addictive" ist das, was Missy und Kumpel Timbaland bereits auf "Supa Dupa Fly" gesucht hatten, doch es lag noch versteckt unter den staubtrockenen Drums der Golden Era des Raps. Es brauchte bis 2001, um den Sound auf die Welt zu bringen, der Missy zu einer der einflussreichsten Künstlerinnen und Timbaland zu einem der gefragtesten Produzenten des Post-Millenniums machte. Ohne "So Addictive" kein "Under Construction", aber auch keine Nicki Minaj, keine Lizzo oder Cardi B.

Kein anderes musikalisches Werk verkörpert diese verrückte Zeit zu Beginn des 21. Jahrhunderts so genau wie dieses: Die quietschende Künstlichkeit, mit der versucht wurde, diese Zeitenwende irgendwie greifbar zu machen. Der technoide Futurismus, mit dem man nach vorne schaute (was sich auch auf dem fürchterlichen Cover bemerkbar macht). Wenn Timbalands stark geloopte Beats den Soundtrack zu "The Fast & the Furious: Tokyo Drift" vorwegnehmen, findet sich sogar die vielfach prophezeite, aber nie so richtig eingetretene Umorientierung des Weltmittelpunkts nach Asien.

Das wirklich großartige an Missys Album jedoch ist, dass nichts davon wirklich ernst gemeint oder angestrengt inszeniert wirkt. Der 2000er Kitsch kommt hier eigentlich nur zusammen, weil er in genau diesem Moment einfach verdammt viel Spaß bereitete und das bis heute tut.

Wer "So Addictive" aus der staubigen (und immer irgendwie auch ein bisschen klebrigen) CD-Sammlung fischt und einlegt, begibt sich auf eine äußerst unterhaltsame Zeitreise. Bereits bei "Dog In Heat" muss grinsen, wer Redmans längst verdrängtes, aber nie wirklich vergessenes Gebell hört. Missy hält sich zu Beginn ihres Albums noch ein wenig zurück, beschränkt sich auf tief gehauchte Parts und catchy Bridges, bevor sie zu einem regelrechten Hitgemetzel ansetzt.

"I don't want, I don't need, I can't stand no minute man / I don't want no minute man / uuuuuhhh here's your chance, be a man, take my hand, understand / I don't want no minute maaaaahhhaaaan", drönt es Acapella aus dem CD-Radio, gefolgt von ununterbrochenen Pieps- und Bassloops, zu denen Missy lasziv und mit Augenzwinkern zum gettin' low auffordert. Nur, um einen Atemzug später in "Lick Shots" stöhnend und schnalzend zum Freistiltanzen zu animieren, bevor mit "Get Ur Freak On", also bereits dem fünften Track, alles absolut eskaliert. Doch nach der Ekstase ist vor der Ekstase. "Scream a.k.a. Itchin'" nimmt ein wenig Dampf raus, bevor "Old School Joint" House und Funk etwas aufdreht, und man zu "Take Away" die letzte Chance bekommt, den nebenstehenden Tanzwütigen näher zu kommen, bevor "For My People" erneut die Eskalationsleiter nach oben klettert.

Aber klar, auch heute noch gilt "Get Ur Freak On" als absoluter Überhit. Wer in diesen knapp vier Minuten nicht wie wahnsinnig alle vorhandenen Gliedmaßen in jede mögliche Bewegungsrichtung wackelt, wird wohl nie wissen, wie sich Freiheit wirklich anfühlt. Es ist nicht nur diese Mischung aus indischer Tumbi, wummernden Bässen, Breaks und Missys lautmalerischen Vocals. Es sind auch die Texte, die unmissverständlich dazu auffordern, jegliche Konventionen hinter sich zu lassen und sich selbst einfach nur so richtig zu fühlen.

Missy Elliott beherrscht die Kunst, Selbstbewusstsein, sexuelle Selbstbestimmung und künstlerische Selbstentfaltung nach unfassbar viel Spaß aussehen zu lassen. Weil sie den Ausdruck ihrer Identität eben nicht als Kampf, sondern als Lust am Leben selbst verstand. Sie diente damit Scharen von Jugendlichen, vor allem aber jungen Frauen, als Vorbild, das heute leider viel zu selten gewürdigt wird. Sie erinnerte erwachsenere Generationen daran, dass Popkultur, Musik und Tanz nicht nur Fleischbeschau sein müssen. Für den kurzen Moment, den "Get Ur Freak On" durch den Club wummst, kann man vergessen, wie man eben noch versucht hat, im hautengen Minikleidschnipsel lasziv zu tanzen, ohne sich direkt komplett zu entblößen, oder besonders imposante und maskuline Moves auszupacken. In diesen Minuten versucht man nichts, man ist einfach. Missy Elliott befreit uns von unseren Beklemmungen und gibt uns damit unsere Würde zurück.

Nicht umsonst wurde sie 2021, 20 Jahre nach "So Addictive", mit einem Stern auf dem Walk of Fame in Los Angeles geehrt. Nicht umsonst wurde sie in die Songwriters Hall of Fame aufgenommen, als erste Female MC und dritte Hip Hop-Künstlerin überhaupt. Denn - und das geht bei der Strahlkraft ihrer Club-Banger schnell unter - Miss E besitzt ein unnachahmliches Gespür für Timing, Tempo und Flow. Ihre wilden, fast schon Free Jazz-artigen Rhythmen und großartige Lautmalerei ergänzen das Wissen um die Notwendigkeit klarer Songstrukturen und ihre Wurzeln im R'n'B der Neunziger perfekt.

Im Team mit Wegbegleiter Timbaland avancierte die ambitionierte Songwriterin zu einem fest verankerten Eckpfeiler der heutigen Pop-Kultur. Sie hat die späte MTV-Ästhetik genauso geprägt wie jungen Frauen weltweit gezeigt, dass sie sich nicht verbiegen müssen, um erfolgreich zu sein - sondern einfach nur sie selbst. Und das mit so verdammt viel Freude, dass sie 20 Jahre später immer noch ansteckend wirkt. Miss E ist und bleibt halt einfach so addictive!

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. ...So Addictive (Intro) (feat. Charlene "Tweet" Keys)
  2. 2. Dog In Heat (feat. Redman & Method Man)
  3. 3. One Minute Man (feat. Ludacris)
  4. 4. Lick Shots
  5. 5. Get Ur Freak On
  6. 6. Scream A.k.a Itchin'
  7. 7. Old School Joint
  8. 8. Take Away (Feat. Ginuwine)
  9. 9. 4 My People (feat. Eve)
  10. 10. Bus-A-Bus (Interlude) (feat. Busta Rhymes)
  11. 11. Watcha Gonna Do (feat. Timbaland)
  12. 12. Step Off
  13. 13. X-Tasy
  14. 14. Slap! Slap! Slap! (feat. Da Brat & Jade)
  15. 15. I've Changed (Interlude) (feat. Lil' Mo)
  16. 16. One Minute Man (Remix) (feat. Jay-Z)
  17. 17. Higher Ground
  18. 18. Higher Ground (feat. Yolanda Adams, Kim Burrell, Dorinda Clark, Karen Clark-Sheard & Mary Mary)

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3 Kommentare mit 4 Antworten

  • Vor 3 Jahren

    Dachte für diese Sterne auf dem Walk of Shame muss man blechen? Soweit ich weiß ist das nicht wirklich en Auszeichnung, wird nur so dargestellt ?

    • Vor 3 Jahren

      Man muss nominiert werden, kann jder machen, und dann akzeptiert werden.

      Die 40 000 USD muss dann derjenige der nominiert hat zahlen, nicht die Person die den Stern bekommt.

      Man muss auch schon was in der Kategorie in der man nominiert wurde erreicht haben und ne gewisse Zeit Erfolg gehabt haben um dahin zu kommen.

  • Vor 3 Jahren

    Im Jahre 2000 gibt es bei weitem sehr viele andere LPs, die den Titel "Meilenstein" verdient haben als die Platte von Missy Elliott, deren Erfolg eher ein bisschen abträglich für die Qualität der Musik in toto war.
    Das ist schließlich das selbe Jahr in dem Supreme Clientel, HNIC, Deltron 3030, Marshall Mathers LP, Quality Control und The Platform erschienen. Stankonia meinetwegen auch noch aber Outkast waren da schon etwas auf dem absteigenden Ast.

    • Vor 3 Jahren

      In der Tat Hammer-Alben, besonders das von Rapper Deltron. ;)

    • Vor 3 Jahren

      Missy Elliott war die führende Rapperin der frühen 2000er und füllte die Lücke, die Lauryn Hill hinterließ.
      Sie verschwand dann abrupt (heute weiß man, dass es ihrer Krankheit geschuldet war), aber der Einfluss, den sie auf heutige Rapperinnen hatte, ist immens. Es gibt übrigens nicht nur Männer im Hip-Hop.

    • Vor 3 Jahren

      @Ohrenschmalz
      Mein Punkt ist nicht, dass sie eine Frau ist. Mein Punkt ist, dass die Musik im Vergleich zu den anderen Alben dort nicht besonders gut ist. Der Vergleich zu Lauryn Hill stimmt vielleicht kommerziell aber künstlerisch ist er relativ frech.

  • Vor 2 Jahren

    ihr mit Abstand bestes, weil innovativstes und kompromisslosestes Album. Klar gibt es eins, zwei Tracks, die nicht unbedingt auf die finale Tracklist raufmüssten, aber bei der hohen Gesamtqualität des Sounds ist das zu verkraften. Timbaland und Missy Elliott schaffen Synergien, die in der Hip Hop-Welt bis heute seinesgleichen suchen. 5/5