laut.de-Kritik
Die Reise eines mutigen Herzens.
Review von Giuliano BenassiAch, diese Stimme! Zu schade wäre es gewesen, wenn die ehemalige Sängerin von 10.000 Maniacs ihre Karriere 2017 mit der Retrospektive "Collection" beendet hätte. Denn danach sah es aus - wer gelegentlich Natalie Merchants Webseite besuchte, stellte fest, dass sich kaum etwas tat. Ihre Liveaktivitäten hatte sie auf wenige Auftritte heruntergeschraubt, und die auch nur auf lokalen Benefizveranstaltungen.
Nun also ein neues Album, ihr erstes seit "Natalie Merchant" 2014. Drei Dinge kamen zusammen, damit sie wieder zum Stift griff und sich ins Studio bewegte: Covid, natürlich, danach hatte sie wieder das Bedürfnis, sich mit anderen Menschen - und Musikern - zu umgeben; die Volljährigkeit ihrer Tochter, die nun am College studiert; und das 2018 erschienene Buch "The Long Take" des schottischen Dichters Robin Robertson, das in ihr eine regelrechte kreative Explosion auslöste.
Nichts davon findet sich unmittelbar auf dem Album wieder. Der rote Faden ist die Liebe, wenn auch anders, als man zunächst annehmen würde. "Die Liebe ist ein Leid", erklärt sie im Interview mit laut, in seiner romantischen Form womöglich eine Erfindung. Sie trifft uns gelegentlich, führt zu einem Hochgefühl und hinterlässt dann oft eine Spur der Verwüstung. Zumindest in der Person, die sich verliebt hat.
Zunächst das Hochgefühl. Mit der hierzulande unbekannten Sängerin Àbena Koomson-Davis beginnt das Album mit zwei gut gelaunten Stücken. Es ist vermutlich das erste Mal in ihrer mittlerweile 40-jährigen Karriere, dass Merchant einer anderen Stimme so viel Platz einräumt. Doch das Zusammenspiel ist wirklich außergewöhnlich, wie sie selbst feststellten, als sie bei Benefizveranstaltungen gemeinsam auf der Bühne standen. Mit Gospel und Rhythm and Blues fühlen sich beide wohl.
Der Kontrast zwischen "Come On, Aphrodite", dem zweiten Stück, und "Narcissus", dem vierten, zeigt, wohin die Liebesreise geht. Die griechische Göttin der Liebe ist hier lebensbejahend, die Geschichte um Narziss und Echo, aus Ovids Metamorphosen, dagegen tragisch. Merchant erzählt sie aus dem Blickwinkel der Nymphe, die sich in diesen unvergleichlich schönen Jüngling verliebt, jedoch von ihm abgewiesen wird. Beide gehen furchtbar zugrunde, die eine an ihren Gefühlen, der andere an einem Fluch der Rachegöttin Nemesis.
Ein Fall für den Schutzengel in Lied Nummer sechs? Nicht wirklich, denn auch dieser ist eine böse Kraft, die ihren Schützling in die Verzweiflung treibt. Die Stellen, in denen Merchant "Take my breath away" immer wieder singt und immer höher und höher geht, bevor sie es ein letztes Mal ganz sachlich wiederholt, gehören zu den schönsten des Albums.
So geht es weiter. Der Liebhaber in "Eye Of The Storm" ist zunächst ein Ruhepol, aber nur für eine kurze Zeit, denn als er weiterzieht, hinterlässt er wie ein Tornado eine Spur der Verwüstung.
Ist die Liebe also umsonst oder gar nur destruktiv? Im Gegensatz zu "Natalie Merchant" endet dieses Album mit einem Hoffnungsschimmer: In "The Feast Of Saint Valentine" finden all die Menschen mit einem gebrochenen Herzen zusammen. Negative Erfahrungen werden somit in etwas Gutes umgewandelt, denn sie führen zur Bildung einer Gemeinschaft. Ein tröstlicher Gedanke, zumindest bis zu einem gewissen Punkt.
Im letzten Stück kommt dann auch der Titel des Albums vor. "Das Wort 'Mut' [courage] hat seine Wurzel im lateinischen Wort für Herz, cor, und wir finden es in vielen Sprachen wieder: le coeur, il cuore, o coração, el corazón. Dies ist ein Liederzyklus, der die Reise eines mutigen Herzens nachzeichnet", erklärt Merchant im Booklet.
Wie schon seit "Leave Your Sleep" (2010) hat sie auch dieses Album selbst finanziert und sich um alles gekümmert. Dazu mietete sie ein Studio in Vermont und verbrachte dort einige Wochen mit all den Musikern, die nach und nach ihre Spuren hinzufügten - wegen den damaligen Corona-Bestimmungen durften sich nur eine bestimmte Anzahl an Menschen im Raum befinden. Ein riesiger Aufwand, der für eine Independent-Künstlerin mittlerweile einzigartig sein dürfte.
Das Ergebnis gibt ihr recht. Auch diesmal hat sie so lange probiert, bis sie mit dem Ergebnis glücklich war. Das zeigt sich besonders an den Streichern, die neben dem Klavier die auffälligste Begleitung stellen: Die klassischen Arrangements stammen von verschiedenen Komponisten, die nicht lediglich untermalen, sondern eine neue Ebene einführen, unter ihnen Gabriel Kahane, Stephen Barber, Colin Jacobson und Megan Gould.
Nicht genug davon: Klarinettist Kinan Azmeh bereicherte "Guardian Angel", Jazz-Posaunist Steve Davis, Ehemann von Sängerin Abena, steuerte Bläserarrangements bei. Wie schon bei "Leave Your Sleep" kam die keltische Folkgruppe Lúnasa ins Studio. Und das ist nur ein Auszug der beteiligten Künstler.
Bei wiederholtem Hören zeigt sich, wie vielfältig das Album ist. "Sister Tilly" ist eine jener herausragenden Persönlichkeiten, über die Merchant gerne Lieder schreibt. Diesmal kein Mensch in Fleisch und Blut, sondern eine Komposition aus starken Frauen der vorangegangenen Generation, die ihr Halt gegeben haben. Dazu gehören ihre Mutter und die 2021 verstorbene Schriftstellerin Joan Didion, der sie das Album widmet.
Auf dem Cover ist eine weitere außergewöhnliche Frau zu sehen, Jeanne D'Arc. Die Postkarte, aus der es entstanden ist, hing bei der 15-jährigen Natalie an der Wand und gehört zu jenen persönlichen Schätzen, die sie im Corona-Lockdown wieder entdeckte. Im Booklet erzählt sie einiges zur Statue, die in Versaille steht. Die Forscherin in ihr ist offenbar neugierig geblieben, was sich auch daran zeigt, dass sie 2022 ins Kuratorium des American Folklife Center berufen wurde, als Teil der Library of Congress eine der wichtigsten kulturellen Institutionen der USA.
Wer die Folk-Seite an Merchant mag, kommt auch dieses Mal nicht zu kurz. "Eye Of The Storm" könnte ein traditionelles irisches Lied sein, "Hunting The Wren" stammt sogar von der Grünen Insel - es ist ein Stück der Band Lankum, das einzige Cover auf den Album. Amerikanisch geht es dagegen in "Song Of Himself" zu, weniger wegen dem klavierbetonten Arrangements als dem Thema, Walt Whitman, der das Gedicht "Song Of Myself" in seinem Standardwerk "Grashalme" unterbrachte.
"Tower Of Babel" ist der einzige offen politische Song des Albums. "So sehr ich die aktuellen Geschehnisse nicht einfließen lassen wollte, konnte ich die vorherrschende Atmosphäre der Angst und Verwirrung nicht beiseite lassen, in der wir aufgrund der Pandemie, der Klimakrise, der wirtschaftlichen Instabilität, der irrsinnigen Politik, der gewalttätigen Aufstände und der schockierenden Auswirkungen des von Konservativen besetzten reaktionären Obersten Gerichtshofs leben", erklärt Merchant auf ihrer Webseite. Wütend klingt er jedoch nicht - mit seiner Rhythm And Blues-Begleitung erinnert das Stück eher an Stax und Motown.
Mal wieder zeigt sich: In Merchants Stimme liegt eine unheimliche Kraft. Auch wenn sie über gebrochene Herzen und die Apokalypse singt, klingt sie steht betörend und tröstend. Dass sie im Laufe der Jahrzehnte nichts an ihrem Zauber verloren hat, gleicht einem Wunder. Eines, das sich live noch besser als auf einem Album erleben lässt. Die gute Nachricht: Merchant geht endlich wieder auf ausgedehnte Tour, auch in Europa. Die schlechte: In den deutschsprachigen Raum kommt sie 2023 leider nicht. Bleibt wohl nichts anderes übrig, als nach Großbritannien, Brüssel oder Amsterdam zu reisen.
1 Kommentar
Glaub ich bin alt. Musste heulen. Zu schön das.