laut.de-Kritik

Ganz geil, bis David Guetta daher getrampelt kommt.

Review von

Öde Anbagger-, Abschlepp- und Schlafzimmer-Geschichten, aalglatte Produktionen: Beschränkt man sich auf eine oberflächliche Betrachtung des Genres, gibt zeitgenössischer R'n'B oft nicht viel her. Ne-Yo hat sich in den letzten Jahren nicht gerade vorgedrängt, um diesen Eindruck mit Tiefgang, Atmosphäre und Eigenständigkeit zu korrigieren. Nichtsdestotrotz hat er sich nun auf die Fahnen geschrieben, für eine "Wiedergeburt des Storytellings" Sorge zu tragen.

Ausschließlich wahre Begebenheiten möchte Ne-Yo auf "Non-Fiction" erzählen. Ob selbige allerdings ihm selbst widerfahren sind oder seinen Fans, mit denen er angeblich in regem Austausch steht: So viel Raum für Spekulationen wolle man sich doch bitteschön offen halten. Na, meinetwegen! Ob der Hauptdarsteller Ne-Yo, Hinz oder Kunz heißt oder ob die ganze Chose komplett erfunden ist, ist doch schnurz, so lange man eine gute Geschichte glaubwürdig und im besten Fall noch musikalisch ansprechend verpackt aufgetischt bekommt.

Allerdings hapert es auf "Non-Fiction" oft schon an den guten Geschichten. Von "Storytelling" kann, wenn überhaupt, nur in Ausnahmefällen die Regel sein. Die Tracks wirken viel mehr wie teils mit grellem Blitzlicht eingefangene Momentaufnahmen des ewigen Spiels der Geschlechter. Auf jeder einzelnen steht eine Lady im Mittelpunkt.

Man muss Ne-Yo zugute halten, dass er ein durchaus differenziertes Frauenbild zeichnet. Seine "Non-Fiction" bevölkern nicht ausschließlich die hübsch anzuschauenden, willigen Tanzmäuschen, die sich widerstandslos mit dem billigsten Anmachspruch auf den nächstbesten Rücksitz quatschen lassen. Das bedeutet keineswegs, dass die billigsten Anmachsprüche im Kastl bleiben müssten: Man(n) kanns ja mal probieren, no risk, no fun, muss aber dann halt hier und da auch eine Abfuhr einkalkulieren.

Bezeichnenderweise geraten die Stellen erzählerisch am spannendsten, an denen das Muster (männlicher) Jäger erlegt (weibliche) Beute nicht - oder zumindest nicht reibungslos - greift. Wenn der Annäherungsversuch an "Integrity" abtropft, oder monetäres Geprotze, wie in "Money Can't Buy", grußlos verpufft, wirkt Ne-Yo plötzlich nah-, weil fehlbar. Zur Abwechslung auch mal schön!

"Story Time" hätte diesen Eindruck perfektionieren können, hätte Ne-Yo die Eier gehabt, die Sache vollends durchzuziehen. In bester Kaminfeueratmosphäre unterbreitet der Sänger da seiner Holden den Vorschlag, doch einmal über einen Dreier nachzusinnen. Dass dafür am Ende doch eine Stephanie, und nicht, wie von der angesungenen Lady ins Gedankenspiel gebracht, "another guy" ("WHAT??!") antelefoniert wird: absolut verschenktes Potenzial.

So progressiv sind wir dann doch wieder nicht. In den meisten Fällen bleibt es bei den üblichen maskulinen Wunschvorstellungen von der stolzen Verführerin, die der Frage "Who's Taking You Home" dann trotzdem mit der richtigen, weil der gewünschten Antwort begegnet. Nach der "Time Of Our Lives" im Club gibts, "Good Morning", Frühstück im Bett. Sofern ihr Anblick am Morgen danach dazu taugt, nahezu religiöse Gefühle zu wecken, versteht sich. So weit, so ausgelutscht. Erst die "Ballerina" entpuppt sich wieder als etwas vielschichtigere Figur, deren gebrochener Lebensweg sich zwischen den Zeilen erahnen lässt.

Musikalisch gestaltet sich "Non-Fiction" so variabel, dass man es nur ausgesprochen durchwachsen nennen kann. Die ersten drei Tracks geben der Hoffnung auf eine wirklich große, spannende, ideenreiche R'n'B-Platte jeden Raum der Welt. Zu den durchaus eingängigen Gesangsmelodien gesellen sich Rap-Parts von Schoolboy Q ("Run") oder T.I. ("One More"), die dem ganzen eine rohe Komponente verpassen. Die Produktionen, atmosphärisch, dunkel, nicht so glatt, fangen die in der Luft hängende Ungewissheit, die Vielzahl der möglichen Ausgänge der skizzierten Situationen, perfekt ein, bis ...

... ja, bis David Guetta in "Who's Taking You Home" mit bemerkenswert nicht vorhandenem Feingefühl jede vorher kunstvoll kreierte Stimmung mit seinen ollen Rave-Effekten über den Haufen rumpelt. Das traurige Ergebnis, Großraumdiscosound, der seines trägen Tempos wegen noch nicht einmal zum Tanzbodenfüller taugt, markiert den Anfang vom Ende. Immerhin: Dass im nächsten Track auch noch Pitbull um die Ecke kommt, mit einer Halligalli-clap-hands-Bummbumm-Nummer, die er schon auf "Globalization" verwurstet hatte, schmerzt da schon kaum noch.

Viel zu oft tragen die Instrumentierungen viel zu dick auf, begraben den Gesang an vielen Stellen auch da unter sich, wo er nicht ohnehin schon mit überflüssigen Effekten zugekleistert wurde. Wenn noch irgendjemand Zweifel an Ne-Yos stimmlichen Fähigkeiten hegt, hat selbiger sich das wahrlich selbst zuzuschreiben: Weil er seiner Stimme einfach zu selten den nötigen Raum lässt, um ihre Qualitäten zu entfalten. Das erscheint besonders bedauerlich, da er die Frequenz der Jacko-esken Kiekser und Stöhner inzwischen endlich so weit gedrosselt hat, dass er nicht länger wie eine Karaoke-Version des King Of Pop wirkt.

Reduzierte Stücke wie "Story Time", in denen Ne-Yos Stimme auftrumpfen kann, bleiben leider die Ausnahme. Auch originelle Momente wie die bratzigen Bläser und der träge schunkelnde Rhythmus in "Religious", dem Chöre zusätzlich einen Gospel-Stempel aufdrücken, besitzt "Non-Fiction" viel zu wenige.

Mehr Dirty South-Vibe (wie in "She Knows"), dafür weniger an Hysterie grenzende Dramatik (wie in "Ballerina"), weniger Uuuuh-Ooooh-Geknödele und vor allem Schluss mit diesem ekelhaft schrillen Plastiksound aus "Coming With You": Dann wird das irgendwann vielleicht doch noch was, mit der Ehrenrettung des R'n'B. Kann ja wohl nicht sein, dass das D'Angelo ganz alleine wuppen muss.

Trackliste

  1. 1. Run feat. Schoolboy Q
  2. 2. Integrity feat. Charisse Mills
  3. 3. One More feat. T.I.
  4. 4. Who's Taking You Home
  5. 5. Time Of Our Lives feat. Pitbull
  6. 6. Coming With You
  7. 7. Good Morning
  8. 8. Money Can't Buy feat. Jeezy
  9. 9. Religious
  10. 10. She Knows feat. Juicy J
  11. 11. Story Time
  12. 12. Ballerina

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2 Kommentare

  • Vor 9 Jahren

    Also dass diese Schmalzbacke anscheinend doch noch mal ein halbwegs erträgliches Album auf die Reihe kriegt, ist ja schon bemerkenswert. Aber mit der Ehrenrettung des R'n'B wird der nie und nimmer was zu tun haben, genauso wenig wie Chris Brown oder Usher.
    Was aber auch nicht nötig ist, mittlerweile gibts doch genug Qualität in dem Genre, wenn ich da an Frank Ocen, Janelle Monae oder The Weeknd denke.

  • Vor 9 Jahren

    Ich muss grade herzlich über mich lachen, da ich als "Un-kenner" Ne-Yo mit Skee-Lo verwechselt habe (rein namenstechnisch). Bei dieser Gelegenheit fiel mir aber auf, dass Skee-Lo noch überhaupt nicht in eurer Datenbank vernetzt ist. Ja, er hatte leider nur einen wirklich grossen Hit, aber generell ist er musikalisch doch gar nicht mal so übel gewesen. 2012 hat er sein bis dato letztes Album veröffentlicht. Das kenne ich noch nicht. Würde mich wirklich interessieren was Frau Fromm dazu zu sagen hat.