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Ich weiß noch genau, wo und wie und mit wem ich zum ersten Mal Nirvanas "Smells Like Teen Spirit" gehört habe. Was für eine Bombe! Wenn Kurt Cobain nach zehn Sekunden Vorspiel ins Fuzzpedal tritt und aus dem funky Grundriff ein Soundtsunami wird, der dir dein kleines Gehirnchen an die Rückseite des Schädels drückt und deine bisherige Einstellung zur Musik, zur Welt also, in Sekundenbruchteilen atomisiert und neu ordnet.

Damals dachte ich beispielsweise, es wäre arschcool, so lange nur eine einzige Jeans zu tragen, bis sie einem buchstäblich von demselben fällt. Auch schien der quasi vollständige Verzicht auf Haarschnitte oder Haarpflege sonstiger Art ein probates Mittel für den Aufstieg auf der Hippness-Leiter. Und auch das Tragen albernster T-Shirts von Bands wie den Hard-Ons (welch Bandname!) war unverzichtbare Folklore.

Ohne rot werden zu müssen darf ich behaupten, ich habe es gleich gewusst: Dieser Song wird überdauern. Noch in 50 Jahren werden Menschen auf Partys zu diesem Riff Veitstänze aufführen und den Kopf schütteln bis die Birne platzt. Dieser Song braucht keine Erklärung, er ist die Erklärung.

Nicht nur der Opener, die gesamte LP war eine einzige Offenbarung. Natürlich, "Smells Like Teen Spirit" war an Power und Druck nicht zu toppen, aber auch Songs wie "Come As You Are", "Lithium" oder "Polly" hatten diesen neuen unwiderstehlichen Groove, dieses Auf und Ab aus eher soften Strophen und Brachialrefrains, die einen fast automatisch in Verzückung versetzten. Und dies auch heute noch tun. Sogar ein Akustikklampfensong wie "Polly" birgt in seiner Slacker-Manier eine unglaubliche Intensität.

In der Rückschau muss man sagen: Waren der 1989er Vorgänger "Bleach" und auch der 1993er Nachfolger "In Utero" (das zusammengestückelte "Incesticide" lassen wir hier mal außen vor) wirklich sehr sehr gute Rockplatten mit ebenfalls ein, zwei Übertracks ("About A Girl" oder auch "Heart Shaped Box"), so ist doch "Nevermind" der vielleicht gewichtigste Meilenstein der jüngeren Rockgeschichte.

Vom musikalischen Standpunkt her mag es Revolutionäreres gegeben haben. Aber was die Wirkung auf die breite Öffentlichkeit betrifft, den sogenannten Mainstream, hat seither keine andere Platte derartige Kreise gezogen: Plötzlich wurde im SWR 3-Dudelradio knallharte Rockmusik gespielt, eine ganze Generation riss sich Löcher in die Hosen und trug hässliche Flanell-Holzfällerhemden. Und die Industrie zog flugs nach, man konnte den Scheiß bereits nach kürzester Zeit ab Stange im Kaufhaus beziehen. Grunge war geboren, der Punk 15 Jahre nach seiner Erfindung in der breiten Gesellschaft angekommen. Der Rest ist Geschichte.

Innerhalb weniger Monate war Amerika genommen, Michael Jackson von der Spitze der Charts verdrängt. Kurze Zeit später regierten Nirvana auch in Europa, dann in der ganzen Welt. Cobain und seine Mitstreiter wurden binnen kürzester Zeit zu Ikonen, Aushängeschildern eines neuen Lebensstils und natürlich zu Millionären. Der drogensüchtige und auch sonst recht labile Kurt verkraftete den ganzen Rummel nicht, löste die Band Anfang 1994 auf und ballerte sich dann in seinem Haus in Seattle den Kopf weg.

Was seinen Ruhm jedoch eher nochmals zu steigern schien. Die morbide Heldenverehrung mag abgeklungen sein, was aber für immer bleiben wird, sind die zwölf Songs von "Nevermind", einem Album für die Ewigkeit.

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. Smells Like Teen Spirit
  2. 2. In Bloom
  3. 3. Come As You Are
  4. 4. Breed
  5. 5. Lithium
  6. 6. Polly
  7. 7. Territorial Pissings
  8. 8. Drain You
  9. 9. Lounge Act
  10. 10. Stay Away
  11. 11. On A Plain
  12. 12. Something In The Way

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51 Kommentare mit 10 Antworten

  • Vor 11 Jahren

    Smells Like Teen Spirit wurde jetzt vom NME zum besten Song aller Zeiten gekuert.

  • Vor einem Jahr

    Dieser Kommentar wurde wegen eines Verstoßes gegen die Hausordnung durch einen laut.de-Moderator entfernt.

  • Vor 10 Tagen

    Absoluter Meilenstein! Viele starke Songs auf dem Album, die die Punkästhetik etwas abschleifen und in ein neues Gewand zaubern! Poliert, aber dennoch authentisch! Aber keiner der Songs kommt natürlich an das Grunge-Flagschiff "Smells Like Teen Spirit" heran. Als Hymne einer ganzen Generation verschrien, ist sie viel mehr als das: Druckvolles Dagegen, Rhythmisches Chaos, aus dem man niemals sicher weiß, ob Kurt Cobain das wirklich ernst meint, es absichtlich gut oder absichtlich schlecht ist, Lyrische Finesse ("How Low" statt "Hello" am Ende des jeweiligen Bridge-Verses) und zu Guter Letzt ein Gitarrenausklang aus der Hölle, der einem letzten Schrei folgt, welcher einfach nur sagen möchte: ich gehöre nicht zu euch. Klar, die allererste Zeile des Songs hätte auch von den Grünen stammen können, aber alles in allem ist der Song unangepasster als so mancher Pop-Veteran im Rückblick zugeben möchte. Chapeau-le-low, Kurt!

    • Vor 10 Tagen

      https://m.youtube.com/shorts/-aSgBZ3aW4c

      Das ist übrigens mein Lieblingszitat von ihm. Wie verächlich er über das Kategoriendenken grinst, als müsste man besonders nett zum Fragesteller sein, der womöglich auch den Begriff "Punkrock" im Lexikon vorher nachlesen musste. Diese "Güte" hatte er auch letztendlich in der lyrischen Abwandlung "How Low" gefühlt, als er genau wusste, eine wirklich ernstgemeinte "Revolutionshymne" wäre ihm komplett auf die Füße gefallen und hätte seinen Kritikern zu Recht das Gefühl gegeben, dass sie ihn verstanden hätten.