laut.de-Kritik

Zurück in den Schutz der Gebärmutter. Und Neustart!

Review von

Zu Ratts "Round And Round" flirtet der gestrauchelte Randy 'The Ram' Robinson im Film "The Wrestler" die Stripperin Cassdy an. Zeitgleich rechnet er mit einem ganzen Jahrzehnt, den 1990ern, ab. Crue, Def Lep und Guns N' Roses regierten seine Welt. Bis diese Cobain-Schwuchtel kam und alles kaputt gemacht hat. Als wäre etwas falsch daran, eine gute Zeit zu haben. "Fuckin' 90's sucked."

Ja, Grunge und Nirvana lutschten die dick aufgetragene 80er-Schminke von den schockierten und kreidebleichen Gesichtern der Hairspray-Rocker. Eben noch machten sich Poison mit ihrem "Unskinny Bop" zum Affen, im nächsten Moment verpasste ihnen "Nevermind" und der Seattle-Hype einen gehörigen Tritt in den gezuckerten Popo. Nach einem durchgestylten Jahrzehnt der guten Laune war nichts dringlicher als dieser Plage aus Posern und Yuppietum ein unangenehmes Ende zu bereiten. Wir hatten einfach genug von eurer Oberflächlichkeit. Mit dem wütenden und abgeschminkten Cobain hatte die Teenage Angst endlich wieder ein Sprachrohr gefunden.

Nur kurze Zeit später, im September 1993, war der Spuk um das Kunstprodukt Grunge im Grunde schon abgefrühstückt. Bis zum finalen Browning Auto-5-Vorhang sollten nur noch sieben Monate ins Land gehen. Nirvana mögen den Startschuss zu dem Hype gegeben haben. Musikalisch hinterließen sie damals nur wenig Spuren bei ihren Mitstreitern. Trittbrettfahrer wie Bush und die Stone Temple Pilots hatten sich längst darauf geeinigt, den Sound von Pearl Jam und Vedders charakteristischen Knödelgesang als Standard zu übernehmen und zu imitieren. Creed sollten ihm später mit ihren christlich-fundamentalen Elementen und Weltschmerz die Pulsadern aufbeißen und ein weiteres ausgelutschtes Produkt zu Grabe tragen.

In dieser Umgebung veröffentlichten Nirvana ihr letztes Studio-Album "In Utero", das der Erwartung nach einem zweiten "Nevermind" den abgefuckten Mittelfinger zeigte. Nirvana waren gegen die Superstars angetreten, nur um selber zu solchen zu mutieren. Mit der sicheren Gewissheit, nie an den Erfolg des Vorgängers anschließen zu können, begaben sich Cobain, Grohl und Novoselic in Abwehrhaltung. Auf ihrem direktesten und besten Album streift die Band den von Butch Vig maßgeschneiderten Pop-Anzug ab und ersetzt ihn durch rauen, tiefeinschneidendem Lärm. Noch heute schmerzt jedes Wort, hämmert sich jeder kratzbürstige Snareschlag ins Gehirn.

"Teenage angst has paid off well / Now I'm bored and old." Die erste diskordante Explosion von "Serve The Servents" wischt all die Trittbrettfahrer, die nur auf den pfeilschnellen MTV-Zug aufgesprungen waren, hinweg. Wir waren wieder unter uns und konnten hier tun und lassen, was immer wir wollten. In diesem autobiographischen Track wechseln sich finstere Verse, um die Jähzorn und Melancholie geifern, mit einem beschwörenden Refrain ab. Gelangweilt vom Rock'n'Roll-Business definierten sich Nirvana von der ersten Note auf "In Utero" selbst.

Im von Patrick Süskinds "Das Parfüm" inspierten "Scentless Apprentice" pushen Nirvana ihre Pixies-Formel zu neuen Extremen. Hysterisch schreit Cobain in sein Mikro, bis Produzent Steve Albini am Mischpult das Trommelfell platzt. "You can't fire me because I quit." Derweil planiert die Dampfwalze Grohl/Novoselic jegliche Anmut und Herrlichkeit platt.

"I'm too busy acting like I'm not naive / I've seen it all, I was here first." Zorn und Verdruss durchziehen sowohl "Tourette's", als auch das mit "Smells Like Teen Spirit" spielende "Rape Me" und "Very Ape", dessen Intro kein Jahr später in The Prodigys "Voodoo People" seine Auferstehung erfuhr. Das aus allen Wunden blutende "Heart-Shaped Box" baut unerbittlich eine eisige Spannung zwischen dem auf "In Utero" vorherrschenden Noise-Rock und seiner melodischen, aber niemals anbiedernden Seite auf. "Throw down your umbilical noose so I can climb right back." Zurück in den Schutz der Gebärmutter. Noch einmal neu starten.

"What else should I write?" In Interviews kurz vor seinem Tod bekräftigte Cobain, dass mit dem dritten Nirvana-Longplayer im Bereich Grunge und Noise-Rock alles gesagt sei. Er zeigte sich begeistert von R.E.M.s "Automatic For The People" und sah die Zukunft zusammen mit Neu-Gitarrist Pat Smear in eine ähnliche Richtung gehen. Das mit Celli unterlegte "Dumb", der liederliche große Bruder von Oasis' "Wonderwall" zeigt gemeinsam mit "Pennyroyal Tea" und "All Apologies" inmitten des "In Utero"-Hurrikans einen ersten zaghaften Schritt in diese Richtung.

Im in sich gekehrten "All Apologies" tragen Cello und Gitarre einen gepeinigten Paartanz mit zur grinsenden Fratze verzerrtem Gesicht vor. Eine von den Replacements inspirierte Lagerfeuer-Nummer mit bösem Zwischenspiel, die im Umfeld der "MTV-Unplugged In New York"-Aufnahmen zu einem posthumen Triumph heranwuchs. Das herbe "Pennyroyal Tea" versteckt seine dunkle Thematik in einem fast schon unschuldigen und eingängigen Gewand. "Give me a Leonard Cohen afterworld / So I can sigh eternally."

Neben den bekannten B-Seiten (Dave Grohls erster Gehversuch "Marigold"), einem bisher zu Recht unveröffentlichten Demo ("Forgotten Tune") und dem Original Steve Albini-Mix von "Heart-Shaped Box" und "All Apologies" beinhaltet die 20th Anniversary Edition je nach Ausgabe noch einen komplett neuen Mix des Albums, sowie den Live & Loud-Set als CD und DVD.

Gerade der 2013 Mix hinterlässt deutliche Spuren. "Dumb" raubt er größtenteils die Celli und versteckt diese unter dem "Serve The Servants"-Refrain. Das seltsam blecherner "Scentless Apprentice" hinterlässt ein noch mulmigeres Gefühl als der Original-Mix. Die Suche nach den kleinen Unterschieden gestaltet sich aber durchaus spannend. Ob man das alles wirklich braucht, steht auf einem anderen Blatt.

Zwanzig Jahre später tanzt die Musikwelt wieder Ringelreihen zur Musik der 1980er - ein Comeback, das bereits länger andauert als das eigentliche Jahrzehnt. Der Indie-Pop feiert glattgebügelte Musik, für die wir früher vom Schulhof geprügelt wurden. Bands, deren Auftreten an die Stimmung und Rebellion einer Tampon-Werbung erinnert. Unbeschwerte Tage, sauber und diskret. Als wäre etwas falsch daran, eine schwermütige Zeit zu haben. Mit "In Utero - 20th Anniversary Edition" überkommt mich, "now I'm bored and old", noch einmal die Wut der vergangenen Jugend. Auch auf die Gefahr hin, nun selbst wie ein Relikt und Randy 'The Ram' Robinson zu klingen: "I miss the comfort in being sad."

Trackliste

CD One

  1. 1. Serve The Servants
  2. 2. Scentless Apprentice
  3. 3. Heart-Shaped Box
  4. 4. Rape Me
  5. 5. Frances Farmer Will Have Her Revenge On Seattle
  6. 6. Dumb
  7. 7. Very Ape
  8. 8. Milk It
  9. 9. Pennyroyal Tea
  10. 10. Radio Friendly Unit Shifter
  11. 11. Tourette's
  12. 12. All Apologies
  13. 13. Gallons Of Rubbing Alcohol Flow Through The Strip
  14. 14. Marigold
  15. 15. Moist Vagina (2013 Mix)
  16. 16. Sappy (2013 Mix)
  17. 17. I Hate Myself And Want To Die (2013 Mix)
  18. 18. Pennyroyal Tea (Scott Litt Mix)
  19. 19. Heart Shaped Box (Original Steve Albini 1993 Mix)
  20. 20. All Apologies (Original Steve Albini 1993 Mix)

CD Two

  1. 1. Serve The Servants (2013 Mix)
  2. 2. Scentless Apprentice (2013 Mix)
  3. 3. Heart Shaped Box (2013 Mix)
  4. 4. Rape Me (2013 Mix)
  5. 5. Frances Farmer Will Have Her Revenge On Seattle (2013 Mix)
  6. 6. Dumb (2013 Mix)
  7. 7. Very Ape (2013 Mix)
  8. 8. Milk It (2013 Mix)
  9. 9. Pennyroyal Tea (2013 Mix)
  10. 10. Radio Friendly Unit Shifter (2013 Mix)
  11. 11. Tourette's (2013 Mix)
  12. 12. All Apologies (2013 Mix)
  13. 13. Scentless Apprentice (Demo)
  14. 14. Frances Farmer Will Have Her Revenge On Seattle (Instrumental Demo)
  15. 15. Dumb (Instrumental Demo)
  16. 16. Very Ape (Instrumental Demo)
  17. 17. Pennyroyal Tea (Instrumental Demo)
  18. 18. Radio Friendly Unit Shifter (Instrumental Demo)
  19. 19. Tourette's (Instrumental Demo)
  20. 20. Marigold (Demo)
  21. 21. All Apologies (Demo)
  22. 22. Forgotten Tune (Instrumental Demo)
  23. 23. Jam (Demo)

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33 Kommentare mit 34 Antworten

  • Vor 11 Jahren

    Also, den ganzen Biografien nach zu urteilen weisen Dumb, Pennyroyal Tea und All Apologies gar nicht in die Zukunft, sondern sind Überbleibsel aus der Nevermind-Ära. Dumb, Pennyroyal Tea und auch Rape me sind alle zwischen 1990 und 91 geschrieben worden und hätten auch auf Nevermind erscheinen können. All Apologies etwas später und alle wurden schon 1991 auf der Tour zu Nevermind live gespielt.
    Cobain selbst hat eher im Lärm von Milk it und Scentless Apprentice den Weg der Zukunft gesehen und wollte Nirvana zu einer Punkversion von Captain Beefhard machen. Das Unplugged in New York und die angedachte Kollaboration mit Michael Stipe deuten natürliche in die akkustische Roichtung, aber für Nirvana hatte Cobain andere Pläne.

    • Vor 11 Jahren

      Für Nirvana hatte Cobain überhaupt keine Pläne mehr, die Band war zum Zeitpunkt seines Todes schon getrennt.

    • Vor 11 Jahren

      You Know Your Right ? Kurts Plaene beim naechsten Album mehr Akustik-Gitarren einzusetzen ? Richtig aufgeloest haben sie sich nie. Waren zum Todeszeitpunkt von Kurt ja sogar noch auf der In Utero-Tour.

    • Vor 11 Jahren

      Ich hab mal vor ewiger Zeit ein Interview mit Dave Grohl gesehen, bei dem er gesagt hat, dass die Band sich schon längst aufgelöst hatte.
      Das die Tour noch lief wusste ich nicht, vielleicht wars ja ne Art von Abschiedstour.

    • Vor 11 Jahren

      Jetzt muss ich doch noch mal etwas dazu sagen. Netterweise kommt der Rolling Stone hier in der Redaktion vorbei und ebenso netterweise hat dieser ein im Januar 1994 geführtes Interview mit Cobain abgedruckt. Eines von denen, an die ich mich erinnern konnte und aus denen ich die R.E.M.-Info usw. damals hatte. "Wir sind an den Punkt gekommen, wo alles nur noch aus Wiederholungen besteht", sagt Cobain darin. "Das ist nicht das Ziel, dem man entgegenfiebern kann. Aber ich weiß, dass wir zumindest noch ein weiteres Album machen werden und ich habe auch schon eine ungefähre Vorstellung, wie es klingen sollte, nämlich akustisch - so wie das letzte R.E.M.-Album (Automatic For The People)." Was wirklich aus der Band geworden wäre bleibt natürlich reine Spekulation. Aber diese Aussage hat sich damals in mein Gehirn gebrannt.

  • Vor 11 Jahren

    die rezi ist so gut geschrieben, dass man ihr kaum widersprechen mag.
    ich tue das dennoch.
    im grunde darf man nirvana musikalisch nicht mit gnr und co vergleichen und profitieren davon, dass sie die unangepassten alternative errungernschaften solcher größen wie hüsker dü, meat puppets, sonic youth oder den sst-label-sachen etc als gut gemachte popkultur (smells...) und über weite strecken höchstens mittelprächtige songwriter mit viel b-seitenkram im hochgejazzten programm,
    samt legendentauglicher tragödie so aufbereiten, dass der eindruck entsteht, es hätte kein künstlerisch wertvolles leben und nur hairmetalrock in den 80ern der usa gegeben. das ist aber eher ein generations- und tunnelblickphänomen, denke ich. für mich eher ein medienphänomen, als eine offenbarung....

  • Vor 11 Jahren

    Nirvana haben nicht einen Song geschrieben der kein Kracher war. Die Triologie Bleach-Nevermind-In Utero gehoert zum besten was die Musikwelt ans Tageslicht gebracht hat. Dass sie nunmal in den Mainstream katapultiert wurden, dafuer koennen die 3(4) ja nichts. In Utero ist doch mal DER Beweis dafuer, dass der Band der Medienrummel und die Verkaufszahlen egal waren. Sie mussten zudem Geffen mit Muehe ueberreden In Urero ueberhaupt zu veroeffentlichen. Ich bekomm immer wieder das Kotzen wenn so selbsternannte halbwissende Musikexperten mit der Anschuldigung kommen Nirvana seien Medienhuren und haben nur einen guten Song auf die beine gestellt(slts). Ebenfalls glauben diese Mtv-Leichen auch an einen Selbstmord Kurt Cobains, obwohl doch bekannt ist dass die Fingerabdruecke an der Waffe weggewischt wurden, seine Kreditkarte gestohlen wurde und die kleine Tatsache das es einen Zeugen gab der mittbekommen hat, wie courtney einen killer auf kurt angesetzt hat. Und diesen zeugen durfte man ganz zufaellig kurz vor seiner aussage von den schienen kratzen.wie dumm kann man eig. sein alles zu glauben was einem vorgegaukelt wird. Falls tippfehler, handy schuld.

  • Vor 11 Jahren

    Der Ratt Song "Round and round" is besser als jeder bestenfalls durchschnittliche Song auf dieser Heroinverseuchten Platte. Hätte Cobain nicht kurz danach die Garage mit seiner Hirnmasse gestrichen, würde heute kein Hahn mehr danach krähen.

  • Vor 11 Jahren

    In Utero ist meiner Meinung nach die Beste von Nirvana und gehört auch zu meinen Allzeit-Favoriten. Vielleicht werde ich mir jetzt auch mal ne Nirvana remastered holen. (habe mich bisher immer dagegen gesträubt). Die Rezi liest sich zu der ja recht gut

  • Vor 11 Jahren

    Ich höre die Platte jetzt zum ersten Mal seit bestimmt 15 Jahren und nicht weil sie sich als Medien-gehypter Scheiss herausgestellt hätte sondern weil es einfach zu weh tat sie nach all´den Dramen nochmals auf zu legen...
    Dazu muß ich sagen das ich 1966 geboren bin,Nevermind für uns damalige Freaks eine einzige Offenbarung und Drogen nehmen eh an der Tagesordnung war-und dann,dieses Monster von einer Platte die nicht nur Kurts sondern auch die (Gefühls-)Lage aller beschrieb die ich so kannte.
    ...und nach dem Finalen Shot in the Dark warfen wir unsere Konzert-Karten in die Mülltonne der (Musik)Geschichte und
    verfluchten die Hexe die ihn so fest im Griff hatte wie das Heroin das er aber auch nur nahm weil er vor lauter Schmerzen an Leib und Seele einfach nicht mehr konnte...