laut.de-Kritik

Ein Meisterwerk und das zweitbeste Album des Shoegazing.

Review von

"First you look so strong / then you fade away." 1990 sahen Ride unbezwingbar aus. Die vier Oxforder thronten über Shoegazing wie der Herkules über Kassel. Mit "Nowhere" veröffentlichte die Jugend von gestern gleich zu Beginn ihrer Karriere ihr Meisterwerk und das zweitbeste Album des Genres.

Doch wer kennt schon die Zweitplatzierten? Wer kennt noch Sam Graddy, The Common Linnets oder Heinz-Harald Frentzen? Wer kann sich daran erinnern, dass Alemannia Aachen einmal Vize-Fußballmeister war? Nur die Eingeweihten und Nerds. Nur die, die damals dabei waren. "So many adventures couldn't happen today / So many songs we forgot to play."

Zum gemeinsamen Konsens gehört es, My Bloody Valentines "Loveless" als Shoegaze-Meilenstein anzusehen. Diese vernichtende Missachtung der Hörgewohnheiten, die sich jeglichem anbiedernden Refrain verweigert. Die Bands und Longplayer im Umfeld verblassen. Wie die große, von Warren Bolster fotografierte Welle auf dem "Nowhere"-Cover spült die Zeit die Erinnerung an sie zunehmend ins weite Meer hinaus.

Doch die Liebhaber und Wissenden schwärmen noch immer von Ride. Der Kopf mag an MBV hängen, das Herz jedoch an Ride. Noch heute streiten sie sich, ob nun das rohe Debüt oder doch das poppig durchproduzierte "Going Blank Again" besser waren. Letzteres hatte mit "Leave Them All Behind" einen fantastischen Opener und mit "Twisterella" einen weltumarmenden Pop-Song. Einig sind sich jedoch alle, dass es nach den beiden Platten mit der Band rapide bergab ging.

Anstatt sich wie Kevin Shields eineinhalb Jahre in diversen Studios einzuschließen und Creation Records (The Jesus and Mary Chain, Primal Scream, Slowdive, Oasis) an den Rand des Ruins zu führen, spielten Ride ihre Stücke mit Produzent Marc Waterman innerhalb von wenigen Tagen live im Studio ein. So gelang es, die Energie ihrer lauten, lärmenden und legendären Liveauftritte einzufangen. Heute nennt Plattenlabel-Gründer Alan McGee Ride "Creation Records' best signing".

Zwischen Januar und September 1990 veröffentlichten sie in schneller Folge die EPs "Ride", "Play" und "Fall". Bereits hier fanden Ride den Stil, der sich auf "Nowhere" fortsetzt. Die langgezogenen Harmonie in Mark Gardeners und Andy Bells Gesang wirkten entrückt, immer leicht verpeilt. Unter ihren effektgeladenen Gitarrenwänden versteckten sich der Pop-Einfluss der 1960er. Steve Queralts fordernde Basslininen und Loz Colbert herausragendes Schlagzeugspiel boten dafür die perfekte Rhythmussektion. Gerade der vor grenzenloser Energie schier platzende Colbert sorgte für die Überraschungsmomente des Longplayers.

All dies war jedoch nur die Verpackung. Die vor Effekten aufheulenden Gitarren und der psychedelische Einschlag wirkten nur unterstützend. Anstatt auf Experimente zu setzen, vertrauten sie in Tracks wie "Dreams Burn Down", "Paralysed" und dem das Album überstrahlendem "Vapour Trail" vor allem auf ihr Songwritingtalent und ihre vor schwärmerischer Naivität strotzenden Melodien. "Tremble with a sigh / Glitter in your eye."

"All die Bands, die wir gehört haben, ließen wir wieder in unsere Arbeit einfließen", erklärte Andy Bell dem FACT-Magazin im Mai 2015. "Wenn uns zum Beispiel Spacemen 3 beeinflusst haben, floss das wieder in einen neuen Song, den wir veröffentlicht haben. Es fand alles sofort Eingang - The House of Love, The Valentines, sogar The Smiths, einfach alles, das und gefiel, floss unmittelbar zurück in unsere eigene Musik. Wir haben es unserem Publikum wortwörtlich zurückgegeben. In gewisser Weise waren wir anfangs eine ziemlich offensichtliche Mischung von allem, das zu dieser Zeit um uns herum geschah. Aber wir konnten nicht anders, wir mussten unsere eigene Note hinzufügen. Das ließ es, denke ich, überdauern und bewahrte das Besondere."

Die ersten Sekunden verhaltenen Feedbacks bereiten nicht im Ansatz auf den Orkan vor, der im Opener "Seagull" wartet. Steve Queralts Bass setzt mit einem an "Rain" von den Beatles erinnernden Lauf ein, dann bricht das Chaos herein. Ein wild um sich schlagender Colbert hängt einen Break an den nächsten. Die Gitarren lärmen vorwärts und rückwärts. Gardeners und Bells Vocals bilden den Kontrast zum Aufruhr. Unvermittelt kommen und gehen sie, wirken beruhigend auf das Stück ein. "You gave me things I'd never seen / You made my life a waking dream / But we are dead / Falling like ashes to the floor." Sobald ihre Stimmen in "Seagull" verstummen, bricht der Track komplett aus, steigert sich über ein Gitarrensolo in ein psychedelisches, mit Adrenalin vollgepumptes Tohuwabohu, bis es sich in den letzten Sekunden komplett überschlägt. Der tasmanische Teufel unter den Ride-Songs.

"Polar Bear" beginnt mit seiner zittrigen Gitarre wie eine Vorsetzung von The Smiths' "How Soon is Now", schlägt dann aber einen ganz eigenen Weg ein. Anstatt sich wie in "Seagull" dem Klanggefüge unterzuordnen, steht nun Gardeners Stimme im Mittelpunkt. "She knew she was able to fly / But just when she came down / She had dust on her hands from the sky." Gitarren, Bass und Schlagzeug bilden einen Träume verzerrenden Hintergrund. Colbert beschränkt sich über weite Strecken auf seine Cymbals, gelegentlich durch Bassdrum und Toms erweitert. Erst im letzten Viertel und nur für einen kurzen Moment eröffnet sich der Track zu seiner vollen Blüte.

"Dreams Burn Down" wirkt zuerst entrückt und wiegt mit mit seinem herabtröpfelnden Gitarren in Sicherheit. Eine Wahrnehmung, die Ride nach jeder Strophe mit einem cholerischem Wutausbruch niederbrennen. Nur bei "In A Different Place" kommen Ride nahezu zur Ruhe. Hier kommen sie einer Ballade am nächsten. Zu einer malerischen Melodie verschiebt sich das Stück zwischen morgenfrischen Versen und dem von verzerrten Gitarren angetriebenen Refrain.

Zwar hefteten diverse Neuveröffentlichungen noch weitere Lieder der vorausgegangenen EPs an das Album, aber es kann nur ein Ende geben: Rides Übersong "Vapour Trail". Von seinen ersten Gitarrenanschlägen hin zur elegischen Cello-Coda, die das Ende von Oasis' "Whatever" vorab nimmt, einfach ein erhabener Track. Bei diesem Genre definierenden Stück kommt alles, was Ride ausmacht auf den Punkt. Bells in den Wolken schwebender Gesang, die wehmütigen Gitarrenakkorde, die Melancholie, der immer auch Hoffnung und Optimismus inne wohnt. Viel besser und liebevoller kann ein Album kaum enden. Das gedankenverloren tänzelnde Einhorn unter den Ride-Songs.

Nach "Going Black Again" eroberte Britpop die Welt. Auf die allgegenwärtige Frage "Blur oder Oasis?" lautete die richtige Antwort nicht Ride, sondern Pulp.

Anstatt Anschluss zu finden, zerstritten sich Gardener und Bell lieber. Ihr Kondensstreifen begann allmählich zu verblassen. Der Verfall lässt sich auf den letzten beiden, im besten Fall mediokeren Alben mitverfolgen. Auf "Carnival Of Light" wollten sich die beiden Streithähne nicht einmal mehr eine Plattenseite teilen und bestanden auf die Trennung ihrer Stücke. Für "Tarantula" schrieb Gardener nur ein Lied. Der Longplayer erwies sich als kolossaler Flop. Bereits nach einer Woche nahm die Band das Werk vom Markt. 1996 trennten sich ihre Wege. Andy Bell ersetzte ab 1999 Paul "Guigsy" McGuigan am Oasis-Bass, folgte Liam als Sidekick zur Nachfolgeband Beady Eye.

Deren Aus führte 2014 unverhofft zu einer Ride-Reunion. Nach diversen Tourneen und Auftritten, kündigen zwei Vorabtracks 2017 ein neues Album an: Das rockige, zeitweise zu sehr an Bells Gallagher-Zeit erinnernde "Charm Assault" und das in der Band-Vergangenheit schwelgende "Home Is A Feeling". Doch so wie beim ersten Mal werden uns Ride nie wieder erwischen. "You are a vapour trail / In a deep blue sky."

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. Seagull
  2. 2. Kaleidoscope
  3. 3. In A Different Place
  4. 4. Polar Bear
  5. 5. Dreams Burn Down
  6. 6. Decay
  7. 7. Paralysed
  8. 8. Vapour Trail

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