laut.de-Kritik

Trojanische Pferde, reduziert aufs Maximum.

Review von

Nach "5" und "7" kommt "Nine": Mathematisch betrachtet, erscheint das nur folgerichtig. Ein viel aussagekräftigerer Titel hätte (genau wie ein ausgefeilteres Cover-Artwort) eher überrascht. Bei Sault geben sie nach wie vor wenig auf das Drumherum. Noch immer ist außerdem, zumindest seitens der Künstler*innen, kein großes Thema, wer hinter dem Projekt steckt. Produzent Inflo verschwendet allerdings auch nicht großartig Energie darauf, seine Handschrift zu verstellen, genauso wenig wie Sängerin Cleo Sol ihre Stimme verfremdet.

Ego-Probleme scheint jedenfalls keine*r der Beteiligten zu haben. Alle treten hinter das Projekt zurück und lassen - verrückte Idee! - ihre Musik für sich sprechen. Das erledigen die neun Tracks plus das Spoken Word-Intermezzo "Mike's Story" dann auch perfekt. Absolut faszinierend, wie Sault mit so wenigen Elementen, mit so sparsamen Worten eine derart große Geschichte erzählen: reduziert aufs Maximum.

Die eingängigen Melodien, die fluffige Instrumentierung und der oft ungekünstelte, spielerische Vibe zimmern ein wahrhaftig trojanisches Pferd. Darin versteckt, dringen die harten, grausamen, traurigen Worte widerstandslos in den Kopf vor, um dort nachhaltig zu detonieren.

"Haha"! Was mit fröhlichen Gesängen und stampfendem Rhythmus beginnt, kippt wenig später in einen minimalistisch schrappenden Beat der Sorte, die Little Simz' "Grey Area" dominierten. Eine noch krassere Kehrtwende im Sound, von wuchtigen Drums und Percussion zu ... am ehesten fällt das wohl unter Grime, legt "Trap Life" hin.

Der Singsang hier wirkt, gerade der eingeflochtenen Lalalas und der Melodiefragmente aus "Auld Lang Syne" wegen, roh und ungeschliffen, als höre man Kindern auf der Straße beim Aufsagen von Abzählversen zu. Hört man genau zu, versteht man aber, dass diese Kinder die Straße und ihre Tücken sehr genau kennen: Es geht - hier wie auf dem Rest von "Nine" - um das Gefangensein in prekären Umständen, um fehlende Perspektiven, aber auch um die unbändige Sehnsucht, das alles hinter sich zu lassen. "We trap in these blocks and we don't trust these cops" - aus nachvollziehbaren Gründen. Es geht um Gewalt, Rassismus, Alkoholmissbrauch, traumatisierende Erfahrungen. "Nine" erzählt darüber hinaus von Vorverurteilungen und Klischees, die wesentlich dazu beitragen, dass Menschen auf der Stelle treten.

All dies verpacken Sault in so ungefähr das Gegenteil, das man angesichts der Lyrics erwartet. "Bitter Streets" klingt trotz seines voluminösen Sounds durch und durch leichtfüßig. "London Gangs" trägt, besonders gegen Ende, Züge einer Rocknummer aus den späten 60ern. "Alcohol" tut, als sei es ein langsamer Walzer. "Light's In Your Hands" tarnt sich als klassische Klavierballade, die zum großen Finale mit Gospelchor auch noch einen sakralen Drall bekommt.

Gerade die gesprochenen Passagen lassen dieses Album bei alldem anmuten wie einen selten authentishen Hood-Report. In "9" lässt sich wirklich etwas lernen über die angebliche "gang culture" im Osten Londons. "Mike's Story" - der Erzähler, damals noch ein Kind, erinnert sich hier grauenhaft präzise an die Nacht, in der er bezeugte, wie seine Mutter vom Mord an seinem Vater erfuhr - drückt einem in weniger als einer Minute das Herz zu Brei.

"The pain is real, can't fake this": Auch, wenn es zunächst so scheint und obwohl es dreimal der Wahrheit entspricht, handelt es sich dabei trotzdem nicht um die Kernaussage dieser Platte. Die steckt vielmehr in der fast schon hippiesken Aufforderung: "Before you lose yourself, don't forget to dream." Gut, dass man es ab und an mit dem Cricketschläger eingehämmert bekommt: Selbst in finstersten Zeiten funzelt noch irgendwo ein Hoffnungsschimmer. "Don't ever lose yourself, you can always start again. Don't ever lose."

Trackliste

  1. 1. Haha
  2. 2. London Gangs
  3. 3. Trap Life
  4. 4. Fear
  5. 5. Mike's Story
  6. 6. Bitter Streets
  7. 7. Alcohol
  8. 8. You From London
  9. 9. 9
  10. 10. Light's In Your Hands

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1 Kommentar

  • Vor 2 Jahren

    Ich bin für satten Bass und ordentliche Breakbeats immer zu gewinnen - allerdings ist mir der Kritikerrummel um die Band ein Rätsel, insbesondere wenn es im modernen Acid Jazz Bereich Bands gibt, die ähnliche aber weitaus wuchtigere und dynamischere Instrumentals haben und auch bei den spoken word parts gibt's hier wenig Neues und Interessantes. Die Kinderstimmen auf den Tracks sind eher ein wenig nervig.