laut.de-Kritik
Intensive Herzmusik, seiner Zeit Dekaden voraus.
Review von Josef GasteigerEs ist erstaunlich, wie oft in der Musikgeschichte Vertragsbrüche, Streitereien mit der Plattenfirma oder Diskrepanzen zwischen Kunst und Kohle den Grundstein für außerordentliche Musik legen. Prince und der Boss können ein Lied davon singen, und auch George Ivan Morrison erlebte es am eigenen Leib. Bevor er seinen Meilenstein der Musikgeschichte hinlegen konnte, wollten die Probleme nicht abreißen.
Als der Nordire gebeten wurde, seinen ersten Solohit "Brown Eyed Girl" auf Bert Berns Label Bang Records zu wiederholen, war Morrison gerade frische 23 Jahre alt und wegen des Ladens an die amerikanische Ostküste gesiedelt. Dort machte er seinem Chef klar, dass ihm andere musikalische Wege vorschwebten. Noch heute bezeichnet er "Brown Eyed Girl" als den "Money Song", durch unglückliche Verträge sah er jedoch kaum etwas von dem Geld.
Nachdem Berns einem Herzinfarkt erliegt und dessen Frau Ilene die Geschäfte des Labels erbt, scheint die Situation zu eskalieren. Morrison bekommt keinen Cent mehr von Bang Records, seine neue musikalische Vision ist nicht gefragt und Promoter in New York wollen keine Shows mehr mit ihm veranstalten. Er selbst weigert sich natürlich, die damals gängige Radiolandschaft mit leichtfüßigen Popsongs zu bedienen. Auf Ansuchen von Ilene Berns hin soll der britische Sänger sogar aus den Staaten ausgewiesen werden, da das Label sich nicht mehr um seine Aufenthaltsgenehmigung kümmern mag. Dunkle Zeiten also, mit denen sich Van Morrison konfrontiert sieht.
Aber für alles gibt es eine Lösung. Klopft die Einwanderungsbehörde an die Türe? Morrison heiratet seine Freundin Janet (Planet) Rigsbee. Keine Auftrittsmöglichkeiten in New York? Das frischvermählte Paar zieht nach Cambridge, Massachusetts, wo der Sänger die hiesigen Clubs bespielt. Um sich der kleinen Bostoner Kaffeehaus- und Barszene anzupassen, übersetzt Morrison seine Musik bald auf ein akustisches Setting mit nur einem Kontrabassisten und einem befreundeten Flötisten. Zwischen Zigarettenrauch und Gesellschaftsrevolution entstehen dort die Songs, die später die Grundlage seines nächsten Albums bilden.
An ein Studio ist vorerst aber nicht zu denken, Miete und Essen erhalten höhere Priorität. Plötzliches Interesse verschiedener Producer um den "Brown Eyed Girl"-Sänger versprechen dann einen Ausweg aus dieser finanziellen Misere. Diejenigen, die fröhlichen Pop erwarteten, werden jedoch von den ausufernden Akustik-Performances ordentlich vor den Kopf gestoßen. Morrison - wie so viele seiner Kollegen nie ein großer Freund davon, seine Kunst zu erklären – gibt bis heute an, nicht bewusst eine neue Richtung eingeschlagen zu haben: "Meine Musik benötigt keine Gedanken an 'Was ist das?' Das wäre zu gekünstelt für mich", sagte er 40 Jahre später der Los Angeles Times.
Der von Warner Bros. beauftragte Lewis Merenstein soll Morrisons Potenzial auf eine mögliche Zusammenarbeit abklopfen und zeigt sich weniger verunsichert: "Es war die gleiche Stimme, aber eine andere Person." Warner kauft Morrison aus dem Bang Records-Deal frei und steckt ihn zielstrebig in das Century Sound Studio in Manhattan. Merenstein übernimmt die Produktion, als Backup-Band verlangt Van nach hochrangigen Jazz-Virtuosen. Bassist Richard Davis, Gitarrist Jay Berliner, Drummer Connie Kay – allesamt Meister ihres Fachs und erprobte Sidemen bei Jazz-Recordings jeder Art – haben es jedoch nicht leicht mit dem nordirischen Querkopf. "Keine Vorbereitung, kein Treffen. Ich glaube, er hat sich uns nicht einmal vorgestellt. Er kam rein und ging in seine Gesangskabine", erzählte Richard Davis später dem Morrison-Biographen Clinton Heylin.
Die Sessions stehen unter dem Anspruch, die aktuelle Performance so natürlich wie nur möglich einzufangen. Morrison spielt den anwesenden Musikern den Song einmal auf seiner Akustikgitarre vor, damit sie eine ungefähre Ahnung bekommen, aber mehr auch nicht. Er vertraut auf die Klasse seiner Musiker, die den dargebotenen Freiraum begrüßen und so ein wolkiges Fundament für Morrisons Musik zimmern und manchmal sogar verfeinern.
Alle in einem Raum, Van abgeschottet in seiner Kabine, aber immer live. Nachträglich fügt er nur noch ein Streichquartett hinzu. Der Rest der Aufnahmen spiegelt das wieder, was damals in einigen Herbsttagen 1968 im Studio in Manhattan passiert. Drei mehrtägige Sessions später, in deren Verlauf auch Morrisons Flötist aus der Bostoner Zeit, John Payne, zur Band stößt, stehen acht Songs zu Buche, mit denen Van zufrieden ist.
Die Sessionmusiker gehen wieder ihrer Wege, in dem Wissen, etwas Besonderes geschaffen zu haben. Es ist nicht die Popsession, für die sie glaubten, angeheuert worden zu sein. Es ist nichts, was sie überhaupt charakterisieren können. Aber die mit Vorzeichen übersäte Entstehungsgeschichte ist nur die Spitze des Eisbergs, setzt man sich mit der Klasse von "Astral Weeks" auseinander, einem der unbestritten außergewöhnlichsten und einnehmendsten Alben der Musikgeschichte.
Pleite, depressiv und mit einer aussichtslosen Zukunft konfrontiert: Die Poesie von "Astral Weeks" ensteht an dunklen mentalen Orten, von denen sich der Schöpfer mit ihrer Hilfe zu entfernen versucht. Mühelos zeichnet Morrison eindrucksvolle Bilder, treibt nicht strukturiert Geschichten voran, sondern erschafft in wenigen Zeilen dieses Paralleluniversum, das vor allem von einem getragen wird: Gefühl. "If I ventured in the slipstream / between the viaducts of your dream / where immobile steel rims crack, and the ditch in back roads stop" ("Astral Weeks"). Dann wieder häufen sich die Wörter im freien Stream-of-Consciousness in einer ungeheuren lyrischen Kraft.
Man wird förmlich hineingesogen in seine Welt voller impressionistischer Schaukästen, in denen Morrison selbst seine Werte und Anschauungen von Gut und Böse, Leben und Sterben und vor allem Lieben und Verlassen neu ausverhandelt. Wie Alice im Wunderland ist auch für Hörer die rationale Suche nach einer Erklärung von vornherein zum Scheitern verurteilt.
Diesen richtungsweisenden Hasen mit der Uhr bzw. eine nüchterne Betrachtung von außen in diesem großen Ganzen klappt nur zum Teil: Der fließende, lose arrangierte Charakter der Songs, die durch und durch jazzige Instrumentierung sowie Vans Stimme, die singt, schwillt, leiert, brüllt, haucht, säuselt, lacht, flüstert - völlig losgelöst von bisherigen Strukturen der Popmusik. Fernab von jeden kommerziellen, radiotauglichen Anknüpfungspunkten ohnehin.
Jeder Song zieht wieder in den Bann. Sämtliche Bestandteile verschmelzen zu dem, was bis heute weit über dem restlichen Werk Morrisons und vieler andere Künstler thront. Unüberhörbar im Mittelpunkt steht sein Gesang, dieser manische und urbrünstige Vortrag, der oft eher die Charakteristika eines Instruments hat als die der Stimme. Wenn er abgekürzt phrasiert, im Tempo variiert, Melodieänderungen bei Wiederholungen vornimmt und nicht weniger als die vollste Kraft seiner Stimmbänder ausnützt. Sein Saxophonspiel sowie die langgehegte Faszination für Bluesbarde Leadbelly verfestigen sich hörbar in seinem Gesang.
Die Akustikgitarre läuft wie ein lebensspendender Fluss durch Vans "Astral Weeks"-Welt. Drums und Percussion sind sehr spärlich eingesetzt und treten wirklich nur beim rasanten Ausbruch "The Way Young Lovers Do" in den Vordergrund. Im Hintergrund blubbert Davis' Kontrabass ein niemals plumpes Fundament zusammen, während Jay Berliner mit seiner klassischen Gitarre die komplette Freiheit in Form von gegenläufigen Melodienlinien vollends ausreizt (intravenös spürbar auf "Beside You").
Ohne Noten oder Leadsheets aufgenommen sind verschiedene Songteile nur schwer auseinander zu dividieren, oft existieren sie gar nicht. Es werden Themen begonnen, etabliert und gesteigert, bis sich eine neue Klangfarbe oder ein neuer Rhythmus einstellt. Und trotz der hochkarätigen Jazzbesetzung verkommt die Instrumentierung nicht zur Kopfmusik.
Wäre man gezwungen, einzelne Songs aus "Astral Weeks" herauszuheben, könnte man zwei benennen, die die Klasse dieser Komposition dick und fett unterstreichen: "Cyprus Avenue" ist nach einer gut situierten Straße in Belfast betitelt, in der sich Morrison immer wieder einfand, um seine Gedanken zu ordnen. Mit einer Geige als Gegenspielerin hadert Morrison mit sich selbst, als er vom Auto aus einer Gruppe Schulmädchen beobachtet, versteinert von "rainbow ribbons in her hair".
Der baldige Live-Favorit als Finale vieler Morrison-Konzerte beinhaltet wunderbare Spannungsbögen. "It's too late to stop now" rief er nach dem Song seinem ekstatischen Publikum immer zu. Und das geht dem Protagonisten in dem Song wohl ähnlich, als er das Mädchen erblickt. Entblößtes Verlangen, gefährliche Sehnsucht und das alles eigentlich mit nur wenigen Noten.
Und natürlich "Madame George", wahrscheinlich der zentrale Punkt des Albums. Überlang, ausufernd, und doch genug nuanciert in seiner Progression, dass man bis zum Ende kleben bleibt. Erneut verortet an der legendären Cyprus Avenue, fängt Van uns sofort mit einem unschuldigen Bild am Straßenrand wieder ein. Abschied und Verlust fließen aus seiner Stimme wie die wiederholten gestammelten "love's to love" oder den Tränen der vergangenen ersten großen Liebe. Die damalige Kontroverse, dass Morrison hier scheinbar eine Drag-Queen besingt, rückt er Jahre später in ein anderes Licht. Der originale Titel sei "Madame Joy" gewesen, so habe er es auch im Studio gesungen. Weitere Erklärungen unnötig. Wie so oft bei Van Morrison. Die Musik steht jedem frei.
Im Grunde genommen sollte man "Astral Weeks" jedoch nicht auf seine großartigen Songs oder andere Bestandteile reduzieren. Jazzmusik und Popthemen fließen ineinander, feingliedrige Instrumentierung verläuft mit Klangbildern des Folk und der Passion und Power von Rock. Bildwelten verschwimmen in Wortschwalle und umgekehrt. Und darüber steht noch immer diese unbeschreibliche Dringlichkeit, auf die Generationen von offenen Ohren reagieren.
Van Morrison singt nicht und spielt auch nicht. Er lebt durch seine Kompositionen und dieses Herzblut ist spürbar. Er selber meint, er wisse nicht, von welchem Ort er die Inspiration für diese poetischen Texte und ergreifenden Melodien bezogen hat. Mystische, keltische Ortschaften oder streiterfüllte Konferenzräume in New York City, ganz egal. Dieses Album ist es wert, sich darin voll und ganz zu verlieren. Dann fällt auch gar nicht mehr auf, dass Van auf dem Cover aussieht wie der Sänger einer ehemaligen deutschen Popband aus Flensburg.
In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.
7 Kommentare
Dieser Kommentar wurde vor 11 Jahren durch den Autor entfernt.
Der Titeltrack ist eins der schönsten Lieder, das ich kenne.
Young lovers ist ein Mördersongs, alleine was der Bassist da so alles macht. EInfach nur gut.
Wirklich würdiger Meilenstein wäre jetzt aber Spinal Tap - das schwarze Album.
Kannte damals nur die single brown eyed girl. Danach hab' ich mir diese Platte hier zum Einstieg besorgt. Absolutes Meisterwerk..Jeff Buckley hat ein nettes cover von sweet thing gemacht.
Schöne Rezension!