laut.de-Kritik

Die Faust ballt sich und die Hoffnung erhebt sich ...

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"Sons Of Winter And Stars" von Wintersuns "Time I"-Album aus dem Jahre 2012 generiert noch heute millionenfache Views auf Youtubes Reaction-Channels. Die symphonische Epik, die filigrane Gitarrenarbeit, der Wechsel aus Growls, Klargesang und Chören sowie die punktgenauen Double-Bass-Attacken verzaubern Vocal-Coaches, SchlagzeuglehrerInnen, Rap-Fans und 2000er Babys gleichermaßen.

Sind Amon Amarth die Manowar des Death Metal, spiegeln Wintersun ihre deutschen Kollegen Blind Guardian im orchestralen, speedigen Todesblei. Der Unterschied: Kürsch und Co brauchen keine Jahrzehnte zwischen den Werken.

Geschlagene zwölf Jahre dauerte es, bis Wintersun-Mastermind Jari Mäenpää endlich die zweite Hälfte des "Time"-Epos abschloss, obwohl diese eigentlich bereits 2013 hätte folgen sollen. Dazwischen lagen Crowdfundings für ein besseres Studio, ein halbherziges Werk ("The Forest Seasons") und diverse Tourneen. Jari erklärt sich: "2014 wurde mir klar, dass ich vor der Fertigstellung von 'Time II' etwas anderes machen musste, mit besseren Computern, einem besseren Studio und besseren Ressourcen. Also haben wir einen kleinen Umweg gemacht und das Album 'The Forest Seasons' gemacht. Wir starteten eine Crowdfunding-Kampagne für dieses Album, um bessere Ressourcen zu erhalten, um die Dinge zu Ende zu bringen."

Das Problem: Wintersun stehen heuer mehr denn je vor der Herausforderung, die extrem hohen Erwartungen der Fans zu bedienen und besser zu sein als alle ihre Epigonen und Jünger, die im letzten Jahrzehnt den symphonischen Melo Death weiterentwickelten. In den Jahren, als Symphonic oder Power Metaler die Growls entdeckten und sich alle Subgenres aufeinander zu bewegten, stellt sich die Frage: Können sich Wintersun an die Spitze zurückkämpfen?

"Time 2" liefert keine eindeutige Antwort. Das Intro "Fields Of Snow" glänzt als musikalische Kirschblüte und erinnert mit seinem japanischen Vibe an den ersten Teil. Jaris Faszination für japanische Kultur scheint ungebrochen und findet sich zwischen den Zeilen auch im Opener "The Way Of The Fire". Der zehnminütige Song nimmt diese Stimmung immer wieder auf und steigt dann im gewohntem Kampf zwischen rasanten Off- und Blast-Beats von Kai Hahto und irren Keyboard-Gitarren-Duellen zu den Sternen. Ab Minute vier werden die nicht mehr ganz so bissigen Growls vom Klargesang abgelöst. Jener ist wesentlich kehliger und gepresster als noch in den Jahren zuvor, verfehlt aber seine majestätische Wirkung nicht. Danach jubilieren die Riffs, wie es nur Wintersun können. Die Produktion des neuen Studios drückt die Komposition zusätzlich mächtig durch die Speaker.

"One With The Shadows" bringt das gleichnamige Debüt wieder brutal in Erinnerung. Der schaukelnde Slow-Beat kontrastiert den vorherigen Wahnsinn, die sehnsüchtigen Riffs laden zum Innehalten ein, und die Chöre breiten sich im Hintergrund aus. In diesem Tempo entfaltet Jaris Stimme seine ganze Wucht. Die Faust ballt sich und die Hoffnung erhebt sich, als der große Refrain folgt. Das Debüt reihte damals solche Hits aneinander wie Auftragskiller und muss in einem Atemzug mit Meilensteinen wie "The Jester Race", "The Gallery" und "Tales From The Thousand Lakes" genannt werden.

Das folgende "Storm" erreicht zwar auch jene altbekannte Intensität, macht aber seinem Namen leider (zu viel) Ehre. Wie ein Hurrikan bläst der Track sämtliche Songstrukturen und Wiedererkennungsmomente hinfort über die magischen Landschaften des asiatischen Ostens. Das ist irre, das ist wahnsinnig, jedoch auch wahnsinnig anstrengend.

Nach dem Sturm kehrt Ruhe ein. Die gefallenen, silbernen Blätter auf "Silver Leaves" weben ein warmes Netz auf dem kargen Boden. 13 Minuten gönnt Jari dieser anderen, wesentlich folkigeren Seite. Es beginnt instrumental wie in einem Soundtrack für die Shogun-Filme und baut sich langsam zu einem durchgehend melancholischen Song auf. Die Gesangsharmonien symbolisieren dabei noch mehr als das Intro dieses faszinierende Land der aufgehenden Sonne. Growls oder Blast-Beats sucht man vergebens und doch könnte hier eine Zukunft der Band liegen. "Es war eine lange Reise", gesteht Jari Mäenpää. Hoffen wir, dass die kommenden Projekte nicht wieder zwölf Jahre brauchen.

Trackliste

  1. 1. Fields Of Snow
  2. 2. The Way Of The Fire
  3. 3. One With The Shadows
  4. 4. Ominious Clouds
  5. 5. Storm
  6. 6. Silver Leaves

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1 Kommentar mit 5 Antworten

  • Vor 3 Monaten

    Ok, habe zunächst das alte Album gehört und kann erstmal verstehen, warum Crowdfunding für bessere Produktion gemacht wurde - das klingt schon alles eher bisschen schwach und lasch in meinen Ohren, was vor allem bei diesem bewusst epischen Ansatz schon ein Manko ist, finde ich.

    Vom neuen habe ich die ersten drei Songs gerade beim Laufen gehört und habe auf jeden Fall erstmal den Pace deutlich erhöht. Das drückt schon ordentlicher und klingt trotzdem clean für mich vom Sound her.

    Bin sehr gespannt auf den Rest, aber frage mich schon jetzt, ob das überhaupt noch so richtig Zielgruppe hat ganz allgemein? Kommt mir wie so ein zwar wohl durchdachter, aber nicht so richtig viel Neues beinhaltender Mix aus Nightwish, Blind Guardian und ab und an mal ein bisschen Cradle of Filth o. ä. vor. Wer hört das heute noch, bzw. greift dann nicht eher zu den genannten und hört die halt im Wechsel oder so? :D

    • Vor 3 Monaten

      Hab neulich länger Urlaub in Polen gemacht (Nein, ganz bestimmt nicht wegen der gleichnamigen Band, Melanie! :mad: ) und bekam zumindest in den größeren Städten gehäuft den Eindruck, dass dort aktuell und zumindest modisch wieder eine verhältnismäßig große Gothmetal-Subszene innerhalb GenZ/Alpha-Genetation am entstehen ist.

      Meine Begleitung - gebürtig von dort und selbst bis heute äußerst anfällig für all so Krempel innerhalb des oben von dir gezeichneten musikalischen Dreiecks - schiebt das auf die immer schon im Verhältnis zur Einwohnerzahl stärker besetzten Subkulturen in Polen vs. Deutschland sowie eine Gen X/Y-Elterngeneration, der es besser als den deutschen Nachbarn gelungen sei, den Charme besagter Subkulturen unpeinlich an ihre Nachfolgeneration zu vermitteln.

      Ich bleibe latürnich ob der rein anekdotischrn Evidenz ihrer Erklärungsansätze skeptischer als jeder gleichnamige Kommentarspalten-Juniormuppet - zumal sie sich selbstredend zu eben jener äußerst erfolgreich erziehender Generation am Übergang bon X zu Y zählt - aber mit ihrem popkulturelll-gesellschaftlichen Riecher im slawischen Raum lag sie bisher beinahe öfters richtig als meinem Ego lieb ist, daher hätte ich deine (aus deiner Perspektive geradezu rhetorisch anmutende) Frage vor meinem eigenen Erfahrungshorizont vermutlich eher nicht gestellt.

    • Vor 3 Monaten

      Minus paar Tippfehler ohne Lesebrille am Handy vorm Zubettgehen und so, sollte klar sein. :joint:

    • Vor 3 Monaten

      Oha, was für ein spannender Ansatz, der sich - wie es mir jetzt wie Schuppen aus den Haaren fällt - tatsächlich mit EIGENEN Anekdoten unterfüttern lässt, die zudem (mindestens für mich) zumindest teilweise immensen Unterhaltungswert boten:

      1) Im Januar besuchte ich ein Emil Bulls Konzert (ja, tatsächlich und ja, ich fand es geil und ja, es ist eine durchaus andere Subkultur) und traf am Rande des Moshpits direkt vor der Bühne auf einen Vater mit seinem Teenager, der sich tatsächlich genau damit rühmte, aus Polen für das Konzert angereist zu sein, um dem Heranwachsenden das mal nahe zu bringen :D

      2) (und jetzt folgen einige laut.de-Community-Trigger - ich bin schon ganz aufgeregt) Vor nun schon wirklich einigen Jahren begab ich mich beim Wacken Open Air zum Auftritt der Band "Oomph!" (und fand es geil :D) und begegnete dort IM Moshpit einer grazil-wütend stampftanzenden Dame, die mich nach dem Konzert kokett und nachhaltig aufforderte, mit ihr einen Drink zu nehmen und die... fand ich auch geil und sie stammte zwar nicht aus Polen, aber aus der Slowakei, wenn ich mich recht entsinne :)

    • Vor 3 Monaten

      Nachtrag:

      Urlaub in Polen machte ich (leider, Melanie, leider!) noch nie, erlebte sie aber vor nicht langer Zeit auf diesem kleinen, aber sehr feinen FREAK VALLEY FESTIVAL, vor dem sich der soul-doc unseres Vertrauens ja seit längerem unerklärlicher- und unverständlicherweise aktiv zu drücken scheint. Unerhört 1/5, solch ein Verhalten - können wir das nicht auch mal zeitnah und äußerst erfolgreich (um-)erziehen? :(

    • Vor 3 Monaten

      "[...]seit längerem unerklärlicher- und unverständlicherweise aktiv zu drücken scheint."

      Hast die Erklärung doch gleich mitgeliefert: Urlaub in Polen live. Wo die stattfinden, ist die Melanie nicht weit. Ich aber für gewöhnlich schon. Hab's ma gebookmarkt, aber vorher sollte klar sein, dass ich bei der nächsten Ausgabe definitiv vielleicht weder Ersteren noch Letzteren (nüchtern) auf dem Gelände über'n Weg laufen werde. :whiz: