laut.de-Kritik

Lebhaftes Vocaljazz-Debüt aus Belgien.

Review von

Es gab immer jene Sorte Jazz-Sänger:innen, die zu Orchester sangen und tanzten, das Mikrofon umklammerten und auf die Knie gehen konnten. Und dann diejenigen, die sich selbst am Flügel begleiten. Letzteren Job überlässt die Belgierin Adja Fassa auf "Golden Retrieve Her" zwar Maxime Moyaerts. Doch verschmelzen ihre Betonungen so sehr mit den Konturen auf dem Klavier, dass man meinen könnte, sie säße selbst vor ihm. Die Newcomerin stammt gleichwohl aus der Theaterszene - symbolisiert durch den Vorhang auf dem Cover.

Im vierminütigen Klangkunst-Zwischenspiel "The Sound Of A Mother - Interlude" gibt sie ihre Lust am Spiel mit Effekten, Timing, irregeleiteten Erwartungen und Abstraktion sowie der Reduktion der Musik auf das Körperliche zu erkennen. Mit "Golden Retrieve Her" feiert die Soul-New Age-Jazzerin ihren Longplay-Einstieg: 13 Musizierende tummelten sich mit ihr im Studio, und fertigen einen fetten und verzierungsreichen Sound mit süßen Kontrabass-Details, teils zusätzlichen Streichern ("Better Bitter" sogar einschließlich Harfe) und Rhythmus-Frakturen (im Titelsong).

Was als zarte und intime Pianoballade beginnt, zum Beispiel "Nook", vermag in lebhaften Wendungen zu einer schrillen Freejazz-Kakophonie voller Fortissimo-Bläserriffs, Percussion-Chaos und aufgeregter Exklamation in Stakkato-Sopran umzuschlagen. Neben plötzlichen Steigerungen gehört aber auch die Ruhe nach dem Sturm zu dieser Platte.

Die Newcomerin und ihr Co-Autor/Gitarrist Alexis Nootens bauen die Scheibe auf einem Konzept auf: dem Scheitern bzw. Sich-Behaupten im Neo-Liberalismus. Beispielsweise digital überwacht arbeiten zu müssen etwa, macht den Fahrer eines Lieferdienstes zum Antihelden: "Package Delivered By Tomorrow". In kieks-hoher Stimmlage posaunt Adja heraus, welche Roboter-haften Regeln eingehalten werden müssen und packt die Thematik in eleganten und quasi neonleuchtenden Neo-Soul. Überhaupt liebt sie offenbar besoners die Gipfel der Tonleitern, so auch in "A Moment".

In "Sucking On My Emphatitties" gibt die Hauptfigur der Geschichte zu, keinerlei Energie für Einfühlungsvermögen mehr übrig zu haben. Betriebswirtschaftliche Kosten-/Nutzen-Kalküle halten im Turbo-Kapitalismus sogar in Freundschaften Einzug, wird in "Unfriend" mit der Schlüsselzeile "so we agree to disagree" kritisiert. Ein digitaler Klick reicht ja schon zum 'Entfreunden'.

Derlei Themen passen zum Zeitgeist. Die Künstlerin gruppiert diese in vier Pakete, wobei sich die Gliederung anhand der in der Vinylversion beiliegenden Tarot-Karten im Detail wohl nur ihr selbst erschließen dürfte. Grob zusammengefasst, geht es um den eigenen Weg im System, poröse Bindungen, Zynismus und Resignation sowie die Kongruenz mit den eigenen Werten und Emotionen.

Die stilistische Gestaltung der Sounds auf einen Punkt zu bringen, griffe zu kurz, angesichts der Fülle an Spielarten innerhalb der soulful jazzigen Klaviaturen. Roberta Flack klingt am Rande an, Carole King in den klavierbasierten Abschnitten. Eine belgische Tageszeitung zog eine Linie zu Lianne La Havas. Spätestens im actionreichen "Sucking On My Emphatitties" mit einem Prince ebenbürtigen Drama-Höhepunkt verlassen einen dann aber mögliche Referenzen oder Parallelen, denn es existiert kein vergleichbarer theatraler Jazz-Sopran.

Der Titel "Golden Retrieve Her" steht übrigens für ein weiteres Wortspiel. Der Golden Retriever bringe als Bild unser soziales System auf den Punkt. So vermute man beim perfekten Paar im Schnitt 2,4 Kinder und ein Haus im Vorstadt-Viertel. "Ich versuche, ein bisschen Sinn für Freundlichkeit wieder zu finden" trällert und sprechsingt die Brüsselerin im Titelstück. Adja gelingt ein facettenreiches und unterhaltsames Debüt, das auch vor experimentellen Momenten nicht zurückschreckt.

Trackliste

  1. 1. Happiness And Butterflies
  2. 2. Package Delivered By Tomorrow
  3. 3. A Moment
  4. 4. Unfriend
  5. 5. Better Bitter
  6. 6. The Sound Of A Mother - Interlude
  7. 7. Sucking On My Emphatitties
  8. 8. Golden Retrieve Her
  9. 9. Be Patient - Outro
  10. 10. Nook
  11. 11. Rest Our Hearts

Preisvergleich

Shop Titel Preis Porto Gesamt
Titel bei http://www.amazon.de kaufen Adja – Golden Retrieve Her €16,98 €3,00 €19,98

Videos

Video Video wird geladen ...

Noch keine Kommentare