laut.de-Kritik
Techno und Cyberpunk als Girlgroup.
Review von Yannik GölzDas koreanische Label SM Entertainment hat manchmal einen kleinen Knacks. Über das ganze Jahrzehnt hat das Haus eine Tendenz gezeigt, das Medium K-Pop ein bisschen über die Grenzen zu schieben. Was bei ikonischen Gruppen wie Shinee, SNSD und EXO noch relativ harmlose Auswüchse annahm, hat insbesondere in der Girlgroup f(x) und dem schräg gesplitteten Boygroup-Projekt NCT seine absurdesten Formen gefunden. "Sticker", "Rum Pum Pum Pum" oder "I Got A Boy" klingen wie aus einer außerirdischen Pop-Galaxie: Sie sind aufgesplittert, teilweise aus unkoventionellen Versatzstücken zusammengebaut und gingen mit Gusto an die Grenzen der popmusikalischen Hörgewohnheiten.
Aespa ist der Gipfel von alledem. Nachdem sie mit ihren zwei lose veröffentlichten Singles "Black Mamba" und "Next Level" bereits eine grobe Marschrichtung vorgegeben haben, löst ihr erstes Mini "Savage" nun alle Versprechungen ein.
Vergesst das K-Pop-Framework, dieses Tape ist ein Fiebertraum. Aespa basiert auf der Grundidee einer Girlgroup, die zwischen der analogen und digitalen Welt oszilliert. Und ihre herrlich campige Cyberpunk-Ästhetik bekommt nun den Hyperpop-Sound, den sie verdient. Die Produzentinnen und Produzenten haben sich nicht zurückgehalten. Keinen Millimeter. Dieses Projekt hätte von SOPHIE, Arca oder Umru produziert sein können und selbst bei denen wäre es noch auf der schrägen Seite ihrer Diskographie gelandet.
Das zentrale Stück gibt der Titeltrack vor. Der presst so viele hirnrissige Momente an Starkstrom-Pop-Exzess in vier Minuten, dass ich es am liebsten gar nicht erst spoilern will. Hier ist ein Link, seht es euch an, nehmt es in euch auf. Habt ihr? Habt ihr? "Savage" ist ein so monumentales Manifest darauf, dass Cringe-Kultur tot ist, ich könnte vor Freude heulen. Erst einmal – dieses Opening mit dem "Oh my gawwwd, don't you know, I'm a ... savage?" - ich musste eine geschlagene Minute darüber lachen. Dann geht es über in einen Noise-Pop-inspirierten Bass-Beat und Verse eins und zwei singen alle Gloria und allen Schwefel des gediegenen Girlgoup-Raps. Ist es authentisch, elegant oder angemessen? Kein bisschen. Aber Winter, Giselle und Karina killen es trotzdem komplett. Zum einen deshalb, weil der Flow und die Kadenzen auf dem destruktiven Rubber Bass einfach über-catchy klingen und zum anderen, weil sie die koreanischen Bars mit so viel Attitüde und Fierceness performen. Es funktioniert. Viel zu gut.
Selbiges gilt für die Hook. Die folgt nämlich nach einem dramatischen Pre-Chorus und kommt vermutlich aufs erste Hören so phänomenal antiklimaktisch, dass es einem die Kinnlade herunterklappt. Ich verwette trotzdem meinen Arsch darauf, dass auch die Person, die gerade Hatekommentare unter diese Review schreibt, in der linken Hirnhälfte das "Ts-ts-ts-ts" rotieren hat. Viel Erfolg, das da wieder rauszubekommen. Was ist das für ein Vocal-Editing, was ist das für eine Harmonie, warum in drei Teufels Namen funktioniert das? Wäre es nur Strophe und Refrain, wäre "Savage" musikalisch schräg und ein bisschen untypisch arrangiert. Aber da kommt noch mehr: In einer gigantomanischen Bridge geht es in den völlig dekonstruierten Dancebreak über und dreht völlig hohl. Der Club-demolierenden Breakdown stampft ein seltsames digitales Geräusch nach dem anderen aus dem Boden, bevor die Hook wieder einsetzt, es klingt weniger wie Melodie als wie elektro-musikalischer Weltraumschrott, der gegen die exzessiven Belts der Sängerinnen brandet. Hier wird so viel rohe, perkussive Energie freigesetzt, dass man für zwanzig Sekunden jeden Bezug dazu verliert, dass das gerade in einem kommerziellen Pop-Kontext passiert. Dieser Song stampft die Hörerinnen und Hörer frontal in den Boden. Es ist ein absolutes Schlachtfeld.
Normalerweise wäre es jetzt so, dass ein K-Pop-Release einen Titeltrack mit ein paar Dreingaben beinhaltet, die mit Idee und Ästhetik des Kernstücks oft überhaupt nichts zu tun haben. Hier ist das Gott sei Dank nicht so. Das ganze Mini-Album hält Schritt mit dem kernbescheuerten Cyberpunk-Camp des Titeltracks. Das Intro "Aenergy" liefert vielleicht sogar noch ein bisschen mehr direkte Eingängigkeit als der Titel. Dabei wirkt die Formel so simpel: Eine EDM-inspirierte 808-Bassline gegen einen Chant – und dann Hip Hop-inspirierte Crowd-Hyper. Aber Aespa zielt auf das Echsenhirn und trifft ins Schwarze. Man spiele diese Songs im Club – und sie werden funktionieren.
Genau in die selbe Kerbe hauen auch "I'll Make You Cry" und "Yeppi Yeppi". Im Kern stecken die ambitionierten SM-Songstrukturen, bei denen jede Passage alle Naturgesetze der Popmusik perfekt verfolgt, aber trotzdem bis zum letzten Winkel mit kleinen Ideen, unerwarteten Twists und Melodie-Läufen und anderem Auge zum Songwriting-Detail aufgeladen ist. Wenn dann sinnvoll eingefädelte Versatzstücke aus Hip Hop und EDM obendrauf kommen, entsteht ein Sound, der in seinem Kern an Shinee, EXO oder TVXQ erinnert – nur eben, durch die futuristische Ästhetik und den Hyperpop-Twist dreißig Jahre in die Zukunft geworfen. "Lucid Dream" schließt das Projekt mit Synth-Eleganz und Hayley Kiyoko-Cowriting auf einer etwas ruhigeren Note ab und gibt nach fünf Songs Geballer einen runden Abschluss.
"Savage" geht den ganzen verdammten Weg. Es wäre so leicht, diese Gruppe und ihre immens talentierten Performerinnen mit einem soliden, tagesaktuellen Sound und Konzept erfolgreich sein zu lassen. Aber die komplett irre Sound-Produktion, die Offenheit für untergründigere Genre-Ideen und das bis in die letzten Lyrics durchgezogene Cyberpunk-Larping zeugt von einer Dedikation zu Pop als Kunstform, die hierzulande in unseren kühnsten Träumen nicht vorkäme.
Vielleicht ist es das, was Aespa als Projekt so faszinierend macht. Diese vier Musikerinnen haben da ein Tape gemacht, das gut und gerne als die koreanische Antwort auf die "Vroom Vroom" EP von Charli XCX durchgehen könnte. Und das spielt da drüben im Mainstream mit, obwohl es kein bisschen weniger anecken wird. Wie schön wäre es, wenn wir auch nur einen Act hätten, der oder die in den Releases für eine so komplette Überraschung gut wäre?
4 Kommentare mit 2 Antworten
Bin mir nicht ganz sicher, ob dieserYannik die Berliner Stadtluft schon gut verstoffwechselt hat und ob ich nach Lesen der Rezi noch genauso viele Hirnzellen habe wie vorher, aber das passt ja dann alles auch ganz gut zur Materie.
Die Erwartungen, die hier in der Rezi an den Titeltrack aufgebaut werden, kann er mMn nicht einlösen und so klingt er in dem vorgegebenen Kontext dann geradezu konventionell. Finde das aber tatsächlich einen logischen und sinnvollen Schritt für's Genre allgemein. K-Pop ist sowieso schon oft genug ein ziemlich wahlloses Aneinanderreihen von Eingängigkeiten und Reizmaximierungen. Da kann man dann das, was das Genre sonst so an Ballast und Konvention bietet auch gerne über Bord werfen und sich in eine stilistische Richtung bewegen, in die das bestens hineinpasst. Macht schon 'ne Menge Sinn und kann man auf kreativer Ebene deutlich mehr respektieren. Hören werde ich es natürlich trotzdem nicht.
Ja, total spannend und innovativ. Teeniegeknödel mit MIA Einflüssen, wow
Der retrospektive Blick auf die Popularität dieses Genres wird lustiger als Falk Schachts plötzliche Einsicht, dass Berliner Rap doch nicht so schrecklich ist, wie er vor 20 Jahren polemisch getextet hat.
Das ist Popmusik, die von Asiaten und nicht von Nordamerikanern/Europäern stammt. Das reicht schon aus, um besonders zu sein?
Joa, Olli Geißen Junior und der friedhofsblonde Mark Forster werden sich beömmeln, bevor Zweitgenannter mit einem pureskem Playbackmedley Auftritt und die dicken Hausfrauen im Saal arhythmisch applaudieren.
#Chartsshow 2050
puresken natürlich
Mir fehlt natürlich die K-Pop-Grundbildung, aber all die grenzwertigen mutigen Dinge die hier Yannick in blumige Worte fasst, enden in blurpiger Trapkacke mit metrosexuellem Tanzfilm untermalt. Irgendwie unterwältigt.