laut.de-Kritik

Wer diese Platte im Regal hat, ist für den Winter bestens gerüstet.

Review von

Ein großer Hit kann Fluch und Segen gleichermaßen sein. Seit dem Chartbreaker "Just So" 2009 kennt man Agnes Obels Musik hierzulande vornehmlich aus der Telekom-Werbung. Vergesst es! Sofort! Mit dem zweiten Album "Aventine" schüttelt die Dänin diesen Affen locker von ihrem Rücken und aus dem Gedächtnis der launischen Diva Popkultur und sichert sich einen Stammplatz im ewigen Tower of Song der Singer/Songwriter .

Die Klanglandschaften der Wahlberlinerin transportieren kristallklare, sehr nordische Stimmungen, wie ein warmer Pril inmitten der eisigsten Winterklaue. Ihr klassisch geschulter Pianowoman-Anschlag samt Begleitung vermittelt dabei ein akustisches Prickeln wie die Gischt des Meeres auf den Gesichtern nächtlicher Strandwanderer ("Aventine"). Wer hier die Assoziation an einen nocturnalen, weiblichen Einaudi mit leichtem Debussy/Satie-Hauch bekommt, liegt alles andere als falsch.

Trotz des übergroßen Charismas der Lieder ist das Team recht überschaubar. Viel brauchen sie nicht, um den Zauber zu entfesseln. Neben Obels Klavier und Gesang besteht die Mannschaft aus der großartigen Cellistin Anne Müller sowie Mika Posen von Timber Timbre an Violine und Viola. Alles ganz nah beieinander und gemeinsam in einem kleinen Raum eingespielt und aufgenommen.

Die Vocals Obels ergießen sich über weite Strecken wie Polarlicht über die Songs. Während die Instrumente den Liedern als rhythmische und melodische Wurzeln dienen, legt sie den Gesang meist eher flächig an. Der Kontrast verwächst spielend leicht zur Einheit. Trotz unbedingter Eigenständigkeit in jeder Sekunde: Hier sollten sich Fans der frühen Sigur Ros, Harold Budds, David Lynchs oder Jan Garbareks ebenso zu Hause fühlen wie Liebhaber der Kunst von Kate Bush, Tori Amos, Ricky Lee Jones oder Katie Melua.

Die Qualitätsdichte ist von schier unglaublicher Schönheit geprägt. Von melancholischer Requiemtauglichkeit bis zum optimistischen Relaxen: Jede Stimmung des Hörers fängt Obel mit ihrer simultanen, hoch emotionalen Vielseitigkeit spielend auf und transzendiert alles zur süchtig machenden Klangdroge. Trotz der Zartheit ihrer Einzelteile verströmt diese sehr spezielle Musik eine ebenso kraftvolle wie unzerbrechliche Wucht, die augenblicklich fesselt, ohne Gefangene zu machen.

Nicht der kleinste Kompromiss in Richtung trendy Pop ist erkennbar. Gleichwohl spricht der Klangkosmos der Wikingerin nahezu jeden an, schließt niemanden aus, der nicht Van Goghs Ohr für Musik hätte.

Einzelne Lieder heraus zu greifen, wäre hier ausnahmsweise sinnlos. Jedes Stück ist ein Kleinod. Wo andere Kollegen der Singer/Songwriterfront einen netten, akustischen Strauß hinterlassen, erwächst unter den Händen Obels ein stolzer, machtvoller Stammbaum, dessen elf Lied gewordene Äste in ihrer Pracht fast alles überstrahlen, was das laufende Jahr bislang im Genre zu bieten hatte. Besser geht es kaum. Wer diese Platte im Regal hat, ist für Herbst und Winter bestens gerüstet.

Trackliste

  1. 1. Chord Left
  2. 2. Fuel to Fire
  3. 3. Dorian
  4. 4. Aventine
  5. 5. Run Cried the Crawling
  6. 6. Tokka
  7. 7. The Curse
  8. 8. Pass Them By
  9. 9. Words Are Dead
  10. 10. Fivefold
  11. 11. Smoke & Mirrors

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