laut.de-Kritik

Der Soundtrack zum nuklearen Trauma.

Review von

Es ist der 30. August 1945: Zwei Wochen nach dem kaiserlichen Erlass über das Kriegsende erreicht Douglas MacArthur die Sagami-Bucht vor Tokio, um als US-Vertreter die Urkunde der bedingungslosen Kapitulation Japans zu unterschreiben. Akira Ifukube verfolgt das historische Ereignis im Radio. Bei Studien hat sich der Soldat einer hohen Strahlenbelastung ausgesetzt. Nun erbricht er Blut, sein Überleben ist fraglich. Er verfolgt, wie der General zum Klang einer Militärkapelle die Flugzeugtreppe hinabsteigt - und erkennt im Marsch verwundert seine eigene Komposition "Kishi Mai" wieder.

Zu diesem Zeitpunkt blickte Ifukube bereits auf einige musikalische Achtungserfolge zurück. Er erholte sich von der Strahlenkrankheit, um sich fortan ganz der Komposition zu widmen. Sein Blick auf die Welt blieb durch die Kriegserfahrung getrübt. Er zeigte sich von den schnellen technischen Entwicklungen der Alliierten geschockt und entwickelte einen "Minderwertigkeitskomplex", wie er es nannte. Die japanische Bevölkerung wiederum war von den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki traumatisiert, was sich durch die US-Kernwaffentests im Bikini-Atoll der 1950er verfestigte.

Mit einem ausgeprägten Gespür für den Zeitgeist verfolgte Filmproduzent Tomoyuki Tanaka die Idee, die vorherrschende Angst vor der nuklearen Vernichtung visuell einzufangen. Bei den Toho-Studios schlug er als Allegorie auf die Atombombenabwürfe einen Monsterfilm vor, der sich an der US-Produktion "Panik in New York" orientieren sollte. "Das Thema des Films war von Anfang an der Schrecken der Bombe", erläuterte Tanaka in der Literaturzeitschrift Virginia Quarterly Review, "Die Menschheit hatte die Bombe erschaffen, und nun würde sich die Natur an der Menschheit rächen."

Ifukube zeigte sich hellauf begeistert, als ihm Tanaka gemeinsam mit Regisseur Ishiro Honda und Spezialeffektkünstler Eiji Tsuburaya das Filmkonzept vorstellten. "Ich konnte nicht stillsitzen, als ich hörte, dass die Hauptfigur in diesem Film ein Reptil war, das durch die Stadt toben würde." Seine Anspannung erschien durchaus angebracht, hatte er doch nur eine Woche Zeit, den Soundtrack zu realisieren. Mit tiefen Blech- und Streichinstrumenten habe er versucht, "Musik zu machen, die einen an etwas Riesiges erinnern würde", berichtet er von seinen Aufnahmen mit dem NHK-Sinfonieorchester.

Von der Zusammenarbeit mit Ishiro Honda schwärmte Ifukube später. "Alle anderen Regisseure, mit denen ich zusammengearbeitet habe, blieben in der Regiekabine, während die Musik für ihre Filme aufgenommen wurde", erzählte er 1993, "Nur Herr Honda kam aus der Kabine und stand neben mir, während ich dirigierte. Er war immer sehr neugierig." Bis zu seiner letzten Regiearbeit "Die Brut des Teufels" 1975 arbeitete er bei einer Vielzahl von Werken mit dem Komponisten zusammen. "Herr Honda gab mir immer die volle Kontrolle über den Score", lobte dieser später in "Kaiju Conversations".

Mit großer Ernsthaftigkeit kündigt sich das Monster noch vor dem ersten Filmbild in "Godzilla Approaches" an. Tonnenschwere Schritte erschüttern die Boxen, und das ikonische Godzilla-Gebrüll erklingt. Tohos Toningenieure wollten einen synthetischen Sound vermeiden und orientierten sich deshalb zunächst an tierischen Vorbildern. "Sie gingen in einen Zoo und zeichneten das Brüllen vieler verschiedener Säugetiere auf", beschrieb Ifukube einmal gegenüber "Kaiju Conversations", "Aber egal, wie man die Geräusche manipulierte, sie schienen zu sehr dem Brüllen der einzelnen Tiere zu ähneln."

Akira Ifukube bezweifelte, dass ein Reptil dieser Größenordnung überhaupt in der Lage wäre, Töne zu erzeugen. Auf der Suche nach einer möglichst unnatürlichen Stimme griff er den Toningenieuren dennoch unter die Arme. "Für das Brüllen von Godzilla nahm ich die unterste Saite eines Kontrabasses heraus und fuhr dann mit einem Handschuh, auf dem sich Harz befand, über die Saite", beschrieb er 1992 in einem Interview, "Die verschiedenen Arten von Brüllen wurden dadurch erzeugt, dass ich die Tonaufnahme, die ich gemacht hatte, in unterschiedlichen Geschwindigkeiten abspielte."

Auf das Gebrüll folgt im Vorspann der "Godzilla Main Title", der sowohl einen militärischen Charakter aufweist als auch hektische Unruhe angesichts des noch unbekannten Gegenspielers verströmt. In der ersten Szene lauscht die Besatzung eines Kutters versonnen dem Gitarre- und Mundharmonikaspiel zweier Kollegen, als ein Lichtblitz die Idylle stört und der Kahn in Flammen aufgeht ("Ship Music/Sinking Of Eikou-Maru"). Als sich ähnliche Vorfälle vor der Küste häufen, breitet sich Angst in der Bevölkerung, bei Presse und Behörden aus. "Anxieties On Ootojima Island" baut die Suspense auf.

Am Rande des "Ootojima Temple Festival" lässt sich ein Reporter die Legende von Godzilla erzählen. Die folkloristische Musik und maskierten Tänzer betten die Erzählung in die japanische Tradition ein. "Stormy Ootojima Island" begleitet zunehmend panisch die nächtliche Verwüstung der Insel. Eine Expedition unter Leitung von Prof. Yamane will den Vorgängen später auf den Grund gehen. Das zupackende "Japanese Army March I" bedient sich an "Kishi Mai" und lässt erahnen, dass die Bestie nicht nur wissenschaftliches Interesse auf sich ziehen wird. Auf der radioaktiv verseuchten Insel kommt es schließlich zur ersten Sichtung.

"Wie konnte dieses Ungeheuer plötzlich in Japan auftauchen?", fragt Prof. Yamane im Zuge einer nicht ganz akkuraten paläontologischen Vorlesung. Möglicherweise habe es unterseeisch gelebt, "bis die Atombomben seinen Frieden störten und es aus seinem Schlupfwinkel aufscheuchten". Der Wissenschaftler warnt noch vor der Bekämpfung der Urzeitechse, doch längst rückt das Militär zu "Japanese Army March I" aus. Godzilla erhebt sich zu adäquat grobschlächtiger Musik aus dem Meer. Mit blanken Fäusten lässt Akira Ifukube für "Godzilla Comes Ashore" auf Klaviertasten einprügeln.

Das ungelenke Monster lässt Züge entgleisen, reißt Brücken nieder und speit seinen Hitzestrahl über die Bauten Tokios. Sparsam instrumentiert und mit kraftvollem Anschlag bewegt sich "Godzilla's Rampage" ebenso wie das Ungetüm selbst in Zeitlupe voran. "Es ist das Unglück dieses Jahrhunderts", kommentiert ein Reporter die niederbrennende Metropole. "Intercept Godzilla" schlägt noch einmal mit frischem Selbstbewusstsein militärisch zurück, doch das Ungeheuer hat sich längst eine Verschnaufpause verordnet und wackelt fast putzig zurück Richtung Hafen ("Godzilla Comes To Tokyo Bay").

Godzilla taucht ab - und hinterlässt ratlose Schwermut. Zu "Tragic Sight Of The Imperial Capital" schweift die Kamera über die zerstörte Hauptstadt, in der Ärzte Kinder mit dem Geigerzähler auf Radioaktivität untersuchen. Frei von Heroismus verharrt der Film für einige Augenblicke, die deutlich mit den noch frischen Eindrücken des Zweiten Weltkriegs arbeiten. Später stimmt ein Mädchenchor der Toho Gakuen School of Music den Bittgesang "Prayer For Peace" an: "Mögen wir ohne Zerstörung leben. Mögen wir hoffnungsvoll auf morgen blicken. Mögen Frieden und Licht zu uns zurückkehren."

Die lieblichen Stimmen erweichen Dr. Serizawa, angehender Schwiegersohn Prof. Yamanes und Erfinder des "Oxygen Destroyer", der die "Weltgeschichte" beeinflussen werde, wie er glaubt. Widerwillig stimmt er zu, seine Erfindung gegen Godzilla einzusetzen. In der längsten Szene bereitet sich zu "Godzilla At The Ocean Floor" Wehmut aus, als der Wissenschaftler untertaucht, um Godzilla und dabei auch sich selbst mit dem Oxygen-Zerstörer umzubringen. Die Riesenechse bleibt skelettiert zurück. Dazu begleitet erneut ein andächtiger Chor das "Ending" des Werks.

"Godzilla" begründete eine äußerst langlebige Reihe von Kaiju-Filmen, die das zugrundeliegende Thema zu variieren wusste. "Shin Godzilla" entstand etwa 2016 unter dem Einfluss des verheerenden Tohoku-Erdbebens, dem folgenden Tsunami sowie der Nuklearkatastrophe von Fukushima. So blieb den Filmen stets die kritische Haltung des Prof. Yamane erhalten, der am Ende warnt: "Wenn wir in maßloser Vermessenheit fortfahren, die Atomkraft zu missbrauchen, kann es sein, dass Schlimmeres geweckt wird, kann es sein, dass größeres Unheil über uns hereinbricht als dieser Godzilla."

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. Godzilla Approaches
  2. 2. Godzilla Main Title
  3. 3. Ship Music/Sinking Of Eikou-Maru
  4. 4. Sinking Of Bingou-Maru
  5. 5. Anxieties On Ootojima Island
  6. 6. Ootojima Temple Festival
  7. 7. Stormy Ootojima Island
  8. 8. Theme Of Ootojima Island
  9. 9. Japanese Army March I
  10. 10. Horror Of The Water Tank
  11. 11. Godzilla Comes Ashore
  12. 12. Godzilla's Rampage
  13. 13. Desperate Broadcast
  14. 14. Godzilla Comes To Tokyo Bay
  15. 15. Intercept Godzilla
  16. 16. Tragic Sight Of The Imperial Capital
  17. 17. Oxygen Destroyer
  18. 18. Prayer For Peace
  19. 19. Japanese Army March II
  20. 20. Godzilla At The Ocean Floor
  21. 21. Ending
  22. 22. Godzilla Leaving
  23. 23. Main Title
  24. 24. First Landing
  25. 25. Tokyo In Flames
  26. 26. Last Assault

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