laut.de-Kritik

Diese posthume Platte hinterlässt einen Nachgeschmack.

Review von

Posthume Platten unterscheiden sich von denen lebender Artists um einige Begleitmomente. Die Deutungshoheit durch die Künstlerin entfällt, die Vorfreude auf eine Tour, um die Songs live zu erleben, ebenfalls. Im Falle von AnNa R. waren sogar schon für Shows im Herbst Konzerttickets verkauft worden - so unerwartet trat der Tod der ehemaligen Rosenstolz- und Silly-Sängerin im März 2025 ein. Über den fertig gestellten Studioaufnahmen schwebt unsichtbar die Frage, ob AnNa sie genauso gewollt und veröffentlicht hätte.

"Mut Zur Liebe" ist sicher nicht die Sorte Album, mit der man der Nachwelt eine klare Handschrift hinterlässt. Dazu wirkt es zu heterogen, puzzleteilehaft, ohne etwas Ganzes zu ergeben. Obwohl es, sagt der Promo-Schrieb, um das Thema der Menschlichkeit versus Misstrauen und Waffengewalt gehe, in Summe als "Paukenschlag im Dickicht des abhandengekommenen Mitgefühls" zu verstehen sei.

Eher wirkt die Tracklist so stimmig wie das Compilation-Menü eines BWL-Pflichtpraktikanten, der in der Lizenzabteilung einer Plattenfirma guckt, was denn noch im Archiv verfügbar ist. Es ist auch kein Album, bei dem Spaß und Erbauung an erster Stelle stünden. Unter anderem verleiden gerade die unsensibel gesetzten Brüche zwischen den Liedern hinsichtlich Themen und Tempo das Hörvergnügen. Selbst wenn einem die Songs gefallen, hätte sogar ein K.I.-Algorithmus sie besser angeordnet.

So durchsäbelt standardisierter Schrammel-Rockpop ("Wenn Du Mich Nicht Liebst") die getragene Stimmung, die "Wer Weiß Wer Weiß" ein Lied zuvor aufgebaut hat. Dieses essenzielle Stück lässt sich als traurige wie auch tröstende Ballade darüber lesen, dem anderen in der Stunde des Todes beizustehen. Für eine so ernste Ballade mutet der Track erratisch weit vorne platziert an, etwas abseits der Konventionen für CD-Dramaturgien. "Nach all der Zeit wird so viel mehr als nur ein Grab gewesen sein", heißt es zum Cello.

"Verschüttet und begraben lieg ich nun hier", referiert AnNa in Knef-Stil. Sarkastisch im Unterton, französisch in der Chanson-Ausrichtung, walzt "Ach Wie Schön Kann Liebe Sein" als zweite Grabes-Nummer. Grau klingt "Zwanzig Nach Vier", auch wenn der Tune einen positiven Anschein anstrebt: "Wenn der Winter begraben ist (...) Jeder Funke von Schmerz in mir / wird in Flammen aufgeh'n / und ich denke daran / wie schön es sein kann / am Leben zu sein." - Eine gewisse Rainer Maria Rilke-Prägung kann man bei der Platte nur schwer ignorieren. Entsprechend deutsch wirkt sie, von altdeutschen Motiven, mittelalterlichem Carpe Diem!, aber doch auch viel Pathos gezeichnet.

Insbesondere wenn man die weinerliche Self-Love-Poesie von "Wenn Du Mich Nicht Liebst" über sich ergehen lässt, kann man sich alsbald wie zwischen Louisan und Bendzko gefangen fühlen. Die schrille Schlager-Hook mittendrin auf diesem sonst oft nachdenklich gestimmten Album entwertet andere Songs drumherum schon wieder, durch flach getextete, trotzige Teenie-Mentalität: "Das Feuer verglüht und keine Blume mehr blüht / wenn du mir nichts gibst (...) ja, dann bleib' ich bei mir / bevor ich erfrier' / wenn du mich nicht liebst / naja, dann lieb' ich mich halt selbst."

Inmitten all dieser Unentschlossenheit, die sich als Emanzipation verkleidet, und inmitten dieses Haderns mit dem temporären menschlichen Dasein und befristeten zwischenmenschlichen Beziehungen klingt zumindest eines recht eindeutig an: AnNa hat diese Nummern wohl im Bewusstsein dessen gesungen, dass sie bald danach sterben werde. Anders lassen sich die ganzen Gräber kaum erklären (auch nicht durch Ukraine, Gaza etcetera). Nach jeder Strophe von "Sag Mir Wo Die Blumen Sind" scheint ein DJ eine andere Plattenpressung aufzulegen, es hüpfen und springen immer wieder die Takes, so hört es sich an. Diese unprofessionell gemasterte Fassung landet im Gruftzyklus bei der Zeile "sag mir, wo die Gräber sind". Das Lied ist für Harfe und Cello zu tief transponiert, ergibt hier einen abgestandenen monotonen Klang, der mit jedem Abschnitt schlimmer wird. Wie schief der Track klingt, ist schon recht unwürdig, wenn man berücksichtigt, dass dies eh ein denkbar unnötiges Cover ist. Bieder-brav, uninspiriert, arbeitet sich die Sängerin mit dem Schwung einer Schildkröte durch die allzu oft schon interpretierten Zeilen.

Ursprünglich stammt das Anti-Kriegs-Stück, inspiriert vom Wiegenlied "Kaloda Duda" aus dem südrussisch-ukrainischen Raum, dann aus den USA: Der Godfather der modernen amerikanischen Folk Music, Pete Seeger, bezog "Where Have All The Flowers Gone" wohl auf die Stimmung im Kalten Krieg. Joan Baez und, auf Deutsch, Marlene Dietrich folgten mit ihren Versionen. Juliane Werding, Hannes Wader und weitere setzten hier den Maßstab. Reinhard Mey gab sich der französischen Fassung "Que Sont Devenues Les Fleurs" hin. Formal handelt es sich um ein Kettengedicht voller rhetorischer Fragen. Der Grundton ist Resignation. Angesichts der Überforderung der völlig steif rezitierenden Sängerin sowie des Teams um Techniker und Drummer Manne Uhlig, bei einem doch einfachen und weltbekannten Lied, möchte man fast auch als Hörer:in resignieren.

Kein Covern, aber dennoch Recycling gilt fürs tragende Riff in "Aufstehen", vertraut aus Fischer-Zs "Berlin". Hinter beißende Gitarren gemischt, reihen sich hier Phrasen ohne Zusammenhang aneinander. Die Musik fragt uns Beifall heischend, ob wir denn nicht auch fänden, dass AnNa R. schon immer eine bluesy Hardrock-Prinzessin gewesen sei, und meine Antwort lautet dennoch: Nein, und das wirkt jetzt auch absolut nicht glaubhaft und "Aufstehen" hört sich gar nicht gut an, sondern hölzern.

Die Chemielaborantin und Instrumenteverkäuferin ist eine der erfolgreichsten in der DDR aufgewachsenen Artists nach der Wiedervereinigung, auch in Österreich. Sie landete fünf Nummer Eins-Alben an der Seite von Peter Plate und gründete im Anschluss mit Manne Uhlig die Band Gleis 8. Mitte März 2025 war sie, unerwartet, tot in ihrer Wohnung aufgefunden worden.

Je mehr die verantwortlichen Akteure betonen, wie umwerfend toll ihre neue Solo-LP und wie sehr sie im Sinne der Verstorbenen sei, je undifferenzierter sie von dem Produkt schwärmen und dagegen AnNas bisheriges Werk relativieren und schmälern, umso mehr drängt sich der Eindruck kommerziell getriebener Leichenfledderei auf. Frank Wiedermann, Manager, rückt klar: "AnNa hätte sich gewünscht, dass dieses Album erscheint. Ihre Fans haben es verdient, diese wundervollen Lieder zu hören." Ariola, die Plattenfirma, doziert im Werbetext: "Unter allen Beteiligten herrschte schnell Einigkeit: Die Langspielplatte enthält die besten Songs, die AnNa je unter eigenem Namen veröffentlichen wollte. (...) Ihr privates wie auch ihr berufliches Umfeld ist sich sicher: Die großartige Künstlerin (...) würde sich wünschen, dass ihre neuen Lieder, die zugleich ihre letzten sind, laut gehört werden. (...) Uns hat sie ihr vermutlich wichtigstes Werk hinterlassen". Manne ergänzt auf web.de, die Veröffentlichung sei sowieso für Herbst geplant gewesen. Ferner lobt das Label, der Longplayer lasse tanzen, elektrisiere und mobilisiere. Meinem Gefühl nach zieht er einen herunter.

Die Instrumental-Minute am Ende in "Ich Seh Dich Ohne Blick" wurde zum peinlichen Zwischending aus Muzak und kostenfreier Library-Music, wie sie die Kamerafahrten über Polizeiautos, Brücken und Flüsse deutscher Großstädte in reißerischen TV-Krimis oft ziert. Dieser Schluss hinterlässt einen ekligen Nachgeschmack nach einer durchwachsenen Dreiviertelstunde. Bei der Empfehlung eines Anspieltipps fällt die Wahl ganz leicht: "Ich Höre Nie Auf Dich" hat dank Sitar den interessantesten Sound und ist auch insgesamt am stimmigsten.

Trackliste

  1. 1. Mut Zur Liebe
  2. 2. Ich Höre Nie Auf Dich
  3. 3. Wer Weiß Wer Weiß
  4. 4. Wenn Du Mich Nicht Liebst
  5. 5. Zwanzig Nach Vier
  6. 6. Aufstehen
  7. 7. Sag Mir Wo Die Blumen Sind
  8. 8. Ach Wie Schön Kann Liebe Sein
  9. 9. Die Böse Farbe
  10. 10. Ich Seh Dich Ohne Blick

Preisvergleich

Shop Titel Preis Porto Gesamt
Titel bei http://www.amazon.de kaufen Anna R. – Mut zur Liebe €17,98 €3,00 €20,99
Titel bei http://www.amazon.de kaufen Anna R. – Anna R., Neues Album 2025, Mut zur Liebe, CD Digipack mit 24-seitigem Booklet inklusive aller Songtexte €32,90 Frei €35,90
Titel bei http://www.amazon.de kaufen Anna R. – AnNa R., Fan-Set: Neues Album 2025, Mut zur Liebe, CD Digipack + Die illustrierte Biografie über AnNa R.: Komplett in Farbe (2025) €54,90 Frei €57,90
Titel bei http://www.amazon.de kaufen Anna R. – AnNa R., Fan-Set: Neues Album 2025, Mut zur Liebe, CD Digipack + AnNa R. Biografie: Die unerzählte Geschichte der österreichischen Indie-Pop-Ikone und 101 schockierende Geheimnisse über sie €66,90 Frei €69,90
Titel bei http://www.amazon.de kaufen Anna R. – Mut zur Liebe - Limitiertes Premium Artbook [Vinyl LP] €74,98 Frei €77,98
Titel bei http://www.amazon.de kaufen Anna R. – AnNa R., Neues Album 2025, Mut zur Liebe, Limitiertes Premium Artbook im Vinyl-Format mit dem Album in farbigem Vinyl und als CD €132,90 Frei €135,90

Videos

Video Video wird geladen ...

2 Kommentare mit 5 Antworten

  • Vor 11 Stunden

    Musik von toten Menschen ist immer besser, weil man dann so melancholisch wird und denkt: "Boah, schade, dass dieser Mensch nicht mehr lebt, weil er ja jetzt tot ist...!"

    • Vor 10 Stunden

      Es wird einem im Nachhinein dann sofort klar, dass sie (und all die anderen) eine von uns gewesen ist. Im Hier und Jetzt leben ist dann kumuliert betrachtet doch weiter verbreitet als man denkt.

    • Vor 8 Stunden

      Irgendwann werden wir alle mal eine*r von denen sein, die welche von uns gewesen waren.

    • Vor 7 Stunden

      Also, wo wir grad beim Thema sind: Ich glaub ja sowieso, dass der Tod erst der Anfang von etwas Neuem ist. Wenn man durch alle Wissenschaften schaut, wie das dort abläuft, sieht man, dass Energien immer im Austausch bleiben und neue Energien bilden. Ich bin sicher, dass das, was wir hier auf der Erde an Kunst erschaffen, irgendwo bleibt. AnNa hatte eine ganz besondere Ausstrahlung. R.I.P.

    • Vor einer Stunde

      Ich stimme der Rezension eigentlich nur in dem Punkt zu, dass das Album sehr heterogen ist. Tatsächlich frage ich mich, ob das wirklich so als Album geplant war. Die Lieder auf "König:in" waren Jahre vor der Veröffentlichung entstanden, wahrscheinlich sogar noch vor der Silly-Kooperation. Vielleicht sollte es langfristig ein Popalbum und ein Chansonalbum geben? Wer weiß, wer weiß. Auf jeden Fall gefallen mir die Lieder größtenteils sehr, sehr gut. "Die böse Farbe" lässt an die guten alten Anfangszeiten von Rosenstolz denken, aber auch die Popsongs sind eingängig und hätten auf der Tour Spaß bereitet.
      Die Pressetexte zum Album bzw. die Infotexte im Booklet sind wirklich überzogen, trotzdem bin ich sehr froh, dass diese Lieder noch veröffentlicht wurden. AnNa wird mir sehr fehlen.

    • Gerade eben

      @danielz:
      Sehr gut ge-/ beschrieben!
      Für mich ein gutes bis sehr gutes Pop/ Rock- bzw. Chansonalbum - 4/5.
      "Ich seh dich ohne Blick" ist GROßartig!
      Ein würdiger, wenn auch trauriger "Abschied"!
      Sleep well, AnNa!

  • Vor 5 Minuten

    Dieser Kommentar wurde vor 4 Minuten durch den Autor entfernt.