laut.de-Kritik

Schaurig-schöne Orgelklänge zwischen Trauer und Festlichkeit.

Review von

Der Sacro Bosco, der Park der Ungeheuer, ist ein grotesker Skulpturenpark, den Pier Francesco Orsini (1523 - 1585) zum Gedenken an seine verstorbene Frau über dreißig Jahre hinweg anlegen ließ. Die nördlich von der italienischen Stadt Bomarzo gelegene Anlage geriet jedoch irgendwann in Vergessenheit, bis sie im 20. Jahrhundert wiederentdeckt wurde. Sie diente Anna von Hausswolff als Inspiration für ihr nun erscheinendes, rein instrumentales Orgelwerk "All Thoughts Fly".

Welche Gefühle dieser Park in ihr weckte, erklärte sie kürzlich in einem Statement: "Es gibt eine Traurigkeit und Wildnis, die mich dazu inspiriert haben, dieses Album zu komponieren, auch eine Zeitlosigkeit. Ich glaube, dass dieser Park nicht nur wegen seiner Anmut, sondern auch aufgrund der Ikonographie überlebt hat und von vorhersehbaren Ideen und Idealen befreit wurde." Weiterhin ergänzt sie: "Es ist eine ziemlich intime Interpretation eines Ortes, den zu beschreiben ich keine Worte habe. Ich würde gerne glauben, dass Orsini diesen gewaltigen Park aus Trauer um seine tote Frau gebaut hat, und in meinem Sacro Bosco habe ich diese Geschichte als Kern für meine eigene Inspiration genutzt: Liebe als Grundlage für die Schöpfung."

Die Platte spielte die 34-Jährige in sieben Tagen mit einer Kirchenorgel ein. Die befindet sich in der Örgryte New Church in Göteborg und ist mit vier Manualen, einem Pedal sowie 54 Registern ausgestattet. Um die Klänge und die Effekte, die sich mit der Orgel erzeugen lassen, in ihrer Ursprünglichkeit festzuhalten, nutzte von Hausswolff mehrere Raummikrofone und Mikrofone innerhalb des Instruments. Letztere sorgten für noch mehr Nuancen. Um eine spätere Aufbereitung kümmerte sich Produzent Filip Leyman in seinem Studio, der auf eine Nachbearbeitung jedoch so gut wie verzichtete. Fast alle Klänge auf der Platte entstammen dem Instrument.

Bei der Orgel handelt es sich um einen originalgetreuen Nachbau einer norddeutschen Stadtorgel aus dem 17. Jahrhundert nach der Bauart Arp Schnitgers, dem bedeutendsten Orgelbauer seiner Zeit. Zudem stellt sie zum gegenwärtigen Zeitpunkt das einzige Instrument dar, mit dem sich das gesamte Orgelrepertoire der Barock- und Renaissancezeit in der von den Komponisten vorausgesetzten mitteltönigen Stimmung wiedergeben lässt.

Mit der Orgel macht uns die Musikerin in "Theatre Of Nature" vertraut. Das besteht aus einem sich ständig wiederholenden Hauptmotiv, das mit den Effekten des Instruments atmosphärisch verschmilzt. So kommt nach und nach eine spezielle surreale Grundstimmung zum Tragen, die sich auch durch die restlichen Stücke zieht. Dabei schwebt der Tod über allem.

Das hört man vor allem im anschließenden "Dolore Di Orsini", wenn sich dronige Klänge und imaginäre Mundharmonika-Sounds bedächtigen Pfeifen-Tönen in tiefstem Moll anschließen, so dass nur noch Gefühle von Schmerz und Trauer bleiben. Da ist Ennio Morricone klanglich nicht mehr weit.

An ihre Ideen führt die Skandinavierin ihre Hörer letztendlich langsam heran. Das emotional Dringliche und Aufwühlende von "Dead Magic" fehlt so größtenteils. Dafür schälen sich vermehrt schaurig-schöne Momente fernab jeglicher Verzweiflung heraus, wie das folgende "Sacro Bosco" beweist. Das führt mit windartigen Pfeifen- und bedrohlichen Todesmarsch-Klängen, durchkreuzt von schiefen Sound-Einsprengseln, zunächst in die Dunkelheit. Gegen Mitte erhellt sich das Firmament jedoch zunehmend mit erhabenen, langgezogenen Orgel-Tönen, begleitet von repetitiven Tastenschlägen. Der Tod bekommt hier etwas Festliches. Schmerz und Trauer weichen der Akzeptanz.

In "Persefone" vernimmt man dann vier gleichbleibende Akkorde, die nach und nach miteinander verschmelzen und so ihre emotionale Wucht nicht verfehlen, während man sich in engelhaften Sphären wähnt. Dabei haftet den ätherischen Klängen stets etwas Friedvolles an. Der Tod verspricht hier Erlösung, eine beruhigende Endgültigkeit. Am Ende gleiten die Orgel-Töne sanft in die Unendlichkeit hinüber.

Aus jedem Ende entsteht jedoch etwas Neues. Dementsprechend kehrt die Mittdreißigerin in "Entering" zum Hauptmotiv von "Theatre Of Nature" wieder zurück, umkreist von virtuosen, schwindeligen Tönen, die kontinuierlich zu einem hypnotischen Klang-Strudel anschwellen. Zum Schluss verliert sich die Nummer mit ambientartigen Texturen im Nebel. Die schaffen Raum für das minimalistische Titelstück. Das hat im Grunde genommen nur eine lange Sound-Schleife und atmosphärische Effekte zu bieten. Dabei gewinnt der Track nach und nach an Intensität, ohne den Hörer all zu sehr zu erschlagen. Auf diese Weise ergibt sich genug Raum, jegliche Gedanken im Kopf für mehr als zwölf Minuten ziehen zu lassen.

Im abschließenden "Outside The Gate (For Bruna)" wähnt man sich schließlich zu geduldig gesetzten Akkordfolgen außerhalb des Skulpturenparkes. Die folkloristischen Noten verdichten sich zu undurchdringlichen, gitarrenartigen Drones, bis sie der Wind irgendwann hinwegpustet. Gegen Ende unterstreichen flackernde Orgel-Klänge die Rätselhaftigkeit, die das Anwesen aufgibt.

Letzten Endes braucht "All Thoughts Fly" etwas Zeit, um sich zu öffnen, aber wenn man sich auf die eigentümliche Stimmung des Albums einlässt, dann möchte man sich immer und immer wieder auf eine akustische Reise nach Sacro Bosco begeben. Nur gibt sich Anna von Hausswolff in Zeiten von Corona nicht mehr ganz so den schweren Gedanken hin wie in der Vergangenheit. Lieber streckt sie ihren Hörern ihre tröstende und liebevolle Hand entgegen, als ob sie sagen möchte: Alles wird gut.

Trackliste

  1. 1. Theatre Of Nature
  2. 2. Dolore Di Orsini
  3. 3. Sacro Bosco
  4. 4. Persefone
  5. 5. Entering
  6. 6. All Thoughts Fly
  7. 7. Outside The Gate (For Bruna)

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