laut.de-Kritik
Also sprach der Draht.
Review von Moritz KleinWenn du je ein Faxgerät angerufen hast, weißt du Bescheid. Vergilbtes Plastik und oxidiertes Kupfer sprechen die tote Sprache vergessener Technik, surren, summen und übermitteln Daten, die sie in akustische Phrasen verpacken. Du bist nicht dazu bestimmt, zuzuhören, aber für eine Sekunde tust du es.
Sobald du eingesaugt bist, gibt es kein Zurück mehr: umgekehrte Samples, sich einwählende Telefone, Mýas "No Sleep Tonight", verwandelt in eine atmosphärische Klanglandschaft. Polyrhythmische Poesie, in der Ferne ratternde Züge, eine kryptische Unterhaltung. Audio aus einem obskuren YouTube-Video, in dem jemand mit einem Stift einen Beat dazu tappt, dass Siri eine Zahl vorliest. "One trillion raised to the tenth power is one, zero, zero, zer–." Und dann dringt ein erschreckender Satz durch den Äther:
"Woke up and asked Siri how I'm gonna die. She replied ... She replied ..."
Seit dem kollaborativen Meisterwerk "Haram" des Duos aus dem Jahr 2021, einer vom ikonischen Produzenten Alchemist perfekt auf den Stil der beiden New Yorker zugeschnittenen jazzigen, düsteren, abstrakten Unterwasser-Vignette, haben wir von Billy Woods und Elucid hauptsächlich über Alben wie "Aethiopes", "I Told Bessie" und "Maps" gehört. Jetzt haben die beiden es wieder getan, und es ist offensichtlich, dass sie die Schwelle einer neuen Ära betreten. "I ain't seen the bottom yet", haucht Elucid, und steckt damit die Atmosphäre für das Album ab. Wohin es auch geht, es ist dunkel da unten.
"Test Strips" entfaltet sich wie eine von einem unerträglich bewussten Münztelefon erzählte Geschichte: Gefühle von an Psychose grenzender, lähmender urbaner Anonymität, freie Assoziation mit verblüffender Präzision, Entfremdung im Endstadium, verpackt in Beat-Poesie aus dem All, und das ist noch eine groteske Untertreibung. Ein neues Armand Hammer-Projekt zu beschreiben, bedeutet den Versuch des berüchtigten Kunststücks, einen Pudding an die Wand zu nageln. Aber hört Sisyphos jemals damit auf, den Felsen zu wälzen?
Abgerundet von der unglaublichen Produktion unter anderem von JPEGMafia (den viele als einen der Spitzenkandidaten des Alternative Hip Hop betrachten) und einer großartig kuratierten Liste an Features nimmt "Test Strips" die Hörer:innen mit auf eine Achterbahnfahrt durch nahezu vollkommene Dunkelheit und unkonventionelle Themen: Freudsche Sichtweisen auf das Selbst, die Dialektik der Liebe, gewaltsame Fantasien, Höhlengleichnisse, antike Mythologie, Paranoia und Misstrauen, alles eingebunden in das Motiv von Anrufen und den Schwellenmomenten, bevor eine Verbindung zustande kommt. Der zugegebenermaßen seltsame Titel verweist im Übrigen auf den in einigen Gegenden von New York offen betriebenen prekären Schwarzmarkthandel mit Diabetes-Teststreifen, der sich auf Werbeplakate mit diesbezüglich anzurufenden Telefonnummern stützt: eine Ästhetik, die Armand Hammer für Begleitmaterial und Look des neuen Albums gekapert haben.
Wir bekommen ein Projekt, das sich absichtlich weniger melodisch, lärmender, atmosphärischer, rhythmisch komplexer und unvorhersehbarer anfühlt, einen Ordner unsortierter obskurer Samples und entweder halb- oder über-ausgesprochener Ideen, alle mit in die Box der verwaisten Netz- und Verbindungskabel geworfen, die du nicht mehr benutzt. Musikalische Anleihen aus dem Jazz sowie aus Welt- und elektronischer Musik, eigenartige Synth-Pads und sogar Fragmente des Heavy Metal (Schrapnelle, wenn man so will, haha, egal!) schweben über den klanglichen Horizont des Albums, kollidieren mit statischem Rauschen, glitchigen Soundeffekten und veränderten Vocals: eine unheimliche und nicht immer angenehme Erfahrung, aber das ist Konfrontationstherapie auch nicht, und das ist ja so ziemlich der Sinn der Sache.
Was bleibt den Hörer:innen? "We Buy Diabetic Test Strips" ist, wie die meisten Projekte von Armand Hammer, ein ein Stück weit als solches identifizierbares Konzeptalbum. Aber ist es zugänglich?
Nicht besonders. Es fühlt sich auf eine bestimmte Weise unnatürlich, industriell, auf mehreren Ebenen entkoppelt und deutlich weniger soulig als der Großteil von "Haram" an, ein von butterigem Jazz und der Essenz instrumentaler Musik überzogenes Album. Wenn die letzte Platte des Duos brauner Rohrzucker in dampfendem schwarzem Kaffee war, ist "Test Strips" ein nicht von der FDA genehmigter künstlicher Süßstoff. Angesichts der im herkömmlichen Sinne außerordentlichen Musikalität von Woods' letzten Projekt "Maps" mit Kenny Segal, dürfte das manch eine:n überraschen: Die Partnerschaft mit Elucid scheint als ein Zufluchtsort für einige der schrägsten, obskursten und esoterischsten Seiten von Kreativität und Innenleben des Brooklyniten zu dienen.
Die synthetische und unvorhersehbare musikalische Atmosphäre passt zu seinen offenkundigen Gefühlen der Perplexität im Angesicht der fortschreitenden 2020er und der Sorge darum, wo er bleibt: "I put money in the floor, I put money in the wall, I put money towards getting the door reinforced" , das sind Woods' Anliegen, und man kauft sie ihm ab. Nachdem er dem Atem seines schlafenden Sohnes gelauscht und ihn zur Schule gebracht hat, macht er eine kalte Bemerkung über den Zustand seiner Nachbarschaft: "I think about my brothers that's long gone and this was all they ever dreamed / People I lost to COVID-19 but it ain't do a thing to the fiends."
Trotz seines Nischen-Appeals enthält das Album auch Tracks, die als Domäne eines Mainstream-Hip Hop-Fans durchgehen: Nachdem etwa der Beat auf "Supermooned" einrastet, überraschen an konventionellen Rap erinnernder harter Bass und Hi-Hats die Hörer:innen nahezu.
"We Buy Diabetic Test Strips" ist eines der bisher interessantesten Alben des Jahres und für Jünger:innen von außergewöhnlichem, genreverbiegendem und -neudefinierendem Hip Hop fast ein akustischer Pflichtdienst: Innovative Produktion trifft auf Beispiele tiefster, lebhaftester und intelligentester Doppelboden-Lyrik im zeitgenössischen Rap, alles verdichtet auf einer Platte über ein so weites Feld von Themen, dass sich die Fläche fast unmöglich abdecken lässt. Das Projekt ist eine einzige Reizüberflutung: immer in Bewegung, ohne dass einem Zeit zum Rasten und Aufholen bleibt, wie ein blitzschneller Trickbetrüger, der einem sich ständig übertreffende Kartentricks zeigt. Während das Album in vielerlei Hinsicht neue Maßstäbe für die Arbeit Armand Hammers setzt, bleibt eines sicher: "We haven't seen the bottom yet."
1 Kommentar
Kann mich der Rezi anschließen. Das Album kann aber auch eine Herausforderung sein. So nebenbei geht das nicht unbedingt gut zu Hören. Hab auch was dazu: https://youtu.be/33CzbNu1ulY