laut.de-Kritik
Hinter den Gefängnismauern lauert die Essenz des elektrischen Blues.
Review von Dominik KautzAm 1. September 1970 spielt B.B. King im berühmt-berüchtigten Chicagoer Nachtclub Mister Kelly's. Nach dem Auftritt bekommt er Besuch von Winston Moore, dem ersten afroamerikanischen Direktor der örtlichen Haftanstalt Cook County Jail. "Es ist eine Premiere für dich im Mister Kelly's und es ist eine Premiere für mich als eine schwarze Person drüben im Gefängnis. Warum kommen wir nicht zusammen, rufen eine weitere Premiere ins Leben und lassen dich für die Insassen spielen", versucht Moore den Gitarristen und Sänger zu einem Konzert innerhalb der Mauern des Knastes zu überreden.
Das Cook County Jail allerdings steht in der Öffentlichkeit in mehr als nur zweifelhaftem Licht. "Alles Mögliche ging. Alles von Heroin über Whiskey bis hin zu italienischem Essen wurde im Gefängnis verkauft und gehandelt. Homosexuelle Vergewaltigung, Bestechung und Mord standen auf der Karte. Niemand schien sich einen Teufel darum zu scheren", berichtet ein Insasse zwei Jahre vor dem Konzert über die herrschenden Zustände vor Ort.
King stimmt dem Vorhaben schließlich zu. Eine wichtige Rolle spielen für ihn dabei auch Moores harte Maßnahmen gegen Rassismus und Bandenstrukturen unter den Häftlingen. Anders jedoch als Johnny Cash, der mit den Gefängniskonzerten "At Folsom Prison" (1968) und "At Saint Quentin" (1969) seiner strauchelnden Karriere einen zweiten Frühling einhaucht, befindet der Bluesgigant zum damaligen Zeitpunkt auf dem absoluten Höhepunkt seiner Karriere. Nur ein halbes Jahr vor dem Auftritt gewinnt er für "The Thrill Is Gone" seinen ersten Grammy in der Kategorie 'Best Rhythm And Blues Vocal Performance, Male'. King spielt das kostenlose Konzert für die Inhaftierten aus reiner Nächstenliebe.
Neun Tage nach dem Auftritt im Mister Kelly's betritt King unter minimalen Sicherheitsmaßnahmen am Nachmittag des 10. September 1970 die im Innenhof der Anstalt errichtete Bühne. Im Publikum befinden sich 2.117 männliche und weibliche Häftlinge. Die überwiegende Mehrheit hat afroamerikanische Wurzeln oder gehört ethnischen Minderheiten an. Wer tanzen will, muss sich im hinteren Bereich des Hofes einfinden. Für alle anderen stehen akkurat aufgestellte Stühle bereit.
Das Konzert beginnt mit den sehr speziellen, seltsam ironischen "Introductions" einer überaus optimistisch klingenden Moderatorin. In ihrer einführenden, comichaft wirkenden Rede fordert sie vom Publikum sowohl für Gefängnisdirektor Moore, als auch für den Oberrichter des Supreme Courts ("einem guten Freund von euch allen") Applaus. Obwohl sie dafür nichts als gellende, andauernde Buh-Rufe erntet, fährt sie unbeirrt fort. Erst mit der Vorstellung von B.B. King als "warmes, menschliches Wesen" löst sich die bedrohliche Stimmung im Publikum und geht in Jubel über.
Im kurzen, ausgesprochen schnellen und feurigen "Every Day I Have The Blues" bringt King mit seinen Musikern zum Einstieg eine nahezu halsbrecherische Performance auf die Bühne. Bedeutend hier nicht nur die Tatsache, dass dem Songtitel in einem Gefängnis nochmal eine ganz andere Bedeutung innewohnt. Man hört die fiebrige Anspannung der Musiker angesichts der besonderen Umstände überdeutlich. "Anfangs war es aufregend. Aber sobald die Eisentüren hinter dir zuschlugen, fühlte es sich eher wie ein 'Oh Mann' an. Ich hatte Bedenken hinsichtlich unserer Entscheidung", äußert sich Pianist Ron Levy im Nachhinein. Selbst King gesteht: "Also, ja, ja – ich war nervös."
Schon zum nächsten Song "How Blue Can You Get?" scheint die Band ihre anfängliche Nervosität abgelegt zu haben und läuft in ruhigerem, weniger schnellem Fahrwasser zur Höchstform auf. Allen voran Drummer Sonny Freeman (einzig verbliebener Musiker, des Personals von "Live At The Regal") und natürlich der Meister selbst. King spielt zu Beginn des Stückes ein durch und durch beseeltes, dreiminütiges Solo. Darin beweist er mit seiner einzigartigen Spielweise hinsichtlich Ton, Phrasierung und Vibrato, wie Perfektion im elektrisch verstärkten Blues zu klingen hat. Auch stimmlich holt er von leise klagend bis fast schon guttural wütend alles aus seiner Stimme heraus. Die heute als stark sexistisch zu wertenden Klageverse " I gave you seven children / and now you wanna give them back" goutiert das Publikum mit begeistertem Applaus.
Bestens aufeinander eingegroovt, transportieren King und seine Band die elektrisierende Klasse dieser außergewöhnlichen Performance ebenfalls im auf zehn Minuten ausgedehnten "Worry, Worry, Worry". Nach einem erneut dreiminütigen, ungemein famosen Solo packt King den Showman in sich aus und unterhält das Publikum mit, für heutige Zeiten, antiquiert patriarchalisch wirkenden Ausführungen darüber, wie das Verhältnis von Männern zu Frauen seiner Meinung nach sein sollte.
"Man happens to be God's gift to women / so ladies you must know that the man is already grown / so you can't raise him over again / so the thing to do is throw your arms around", erklärt er dabei äußerst patrimonial. Kings fast den halben Song dauernde Ausführungen mögen zwar für heutige Hörer*Innen ausufernd lange wirken, zeigen aber eindringlich die hervorragende Atmosphäre während der 'Konversationen' zwischen dem King of the Blues und seinem Publikum. King tritt hier mit Wiederholungen von für ihn wichtigen Schlüsselwörtern fast wie ein Prediger auf.
Die zweite Hälfte der Platte beginnt mit "Medley: 3 O'Clock Blues / Darlin' You Know I Love You". Beide Songs gehen zurück zu den Anfangstagen seines Debütalbums "Singin' The Blues". Mit "3 O'Clock Blues" erklimmt er 1952 für fünf Wochen die Spitze der Billboard R&B-Charts. Auch mit "Darlin' You Know I Love You" schafft er es wenig später an die Spitze dieser Charts. Nur konsequent, dass King beide Tracks im Medley zu langsamen Blues-Nummern umgearbeitet mit seinen delikat-dynamischen Soli präsentiert. Das hervorragende Pianospiel von Ron Levy unterstützt die zurückgelehnte Stimmung dieses Medleys zusätzlich hervorragend.
Nach dem etwas flotteren, mit feinfühlig leidenden Licks gespickten "Sweet Sixteen" laufen King und Band dann erneut zu absoluter Hochform auf. Besteht der Gig bisher ausschließlich aus dem Live-Repertoire der 1950er Jahre, packt er mit dem lupenreinen "The Thrill Is Gone" die einzig aktuelle Nummer auf die Setlist des Konzertes. Leidenschaftlicher und lebendiger hätte King den Höhepunkt des Gigs nicht präsentieren können. Eine bessere Darbietung des Songs gelingt ihm vermutlich nie wieder. Danach wendet er sich mit den höflich dankenden Worten "Lucille, das ist meine Gitarre hier. Wir fühlten uns sehr, sehr gut heute" an die Zuschauer und bedankt sich ausgesprochen menschlich und höflich, bevor er diesen grandiosen Auftritt mit der finalen und sehr getragenen Ballade "Please Accept My Love" beschließt. Das besondere Publikum feiert den Held des Abends mit stehenden Ovationen.
Obwohl sich die Band während des Auftrittes im Cook County-Gefängnis von Anfang bis Ende in ihrer bestmöglichen Form zeigt, darf der Gig nicht nur aus musikalischer Sicht betrachtet werden. Mindestens ebenso wichtig ist die nachhaltige, humane Komponente, mit welcher der Philanthrop B.B. King das Konzert 1970 bestreitet. Bestürzt über die Lebensbedingungen schwarzer Häftlinge, spielt er fortan immer wieder kostenlose Konzerte in Gefängnissen. Zusätzlich gründet er 1972 mit der 'Foundation for the Advancement of Inmate Rehabilitation and Recreation' eine Stiftung zum Wohle Inhaftierter.
Übrigens wäre auch "Live At The Regal" ein würdiger Meilenstein gewesen. King selbst sagt später zu jener Platte: "Ich denke, es ist ein gutes Album, ja. Aber es war nicht so, wie einige Leute sagten, dass es das beste Ding wäre, das ich je machte."
Fairerweise muss man im Falle dieser beiden gleichwertigen Klassiker die für King nachhaltigere Underdog-Karte ziehen und auf "Live In Cook County Jail" setzen. Hinter diesen Gefängnismauern lauert die Kingsche Essenz des elektrischen Blues. Das liegt nicht zuletzt auch an dem wahrlich herausragenden Sound des von Bill Szymczyk produzierten Albums. 2002 nimmt die Blues Hall of Fame "Live In Cook County Jail" völlig verdient in der Kategorie 'Classic of Blues Recording – Album' auf.
In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.
2 Kommentare mit 7 Antworten
Wichtiger Stein, aber wo bleiben The Offspring?
Ich nehme mal an du meinst Smash und so sehr ich das Album mag, es hatte trotz großen Erfolg und großartigen Songs nie die musikalische Nachwirkung, wie Dookie, um es als Meilenstein zu qualifizieren.
Offspring kann sich hinten anstellen. Ich fordere seit Jahren einen Jane's Addiction Stein. Weiß nicht, warum die das nicht geschissen kriegen.
Voivod wär auch mal fällig. Biete mich auch gerne als Gastschreiberling an.
Würd ich feiern. Für mich wären das "War and Pain" oder "The Outer Limits".
Oh, das wären wohl auch meine Picks, insb. Outer Limits.
"Dookie" ist klar das bessere Album und Green Day die bessere Band, aber "Smash" war megaerfolgreich und hat auch dazu beigetragen, Pop-Punk als 90s-Genre zu etablieren.
"HIV" ist klar das bessere Virus und AIDS die bessere Erkrankung, aber "SARS-COVID-19" war megaerfolgreich und hat auch dazu beigetragen, SARS als Krankheits-Genre zu etablieren.
Ein verdienter Meilenstein von B.B. King Live kann man genau hören was für ein sehr guter Gitarrist er war.