Porträt

laut.de-Biographie

Baloji

Diese Biographie erzählt die Geschichte eines Mannes mit einer verkorksten Kindheit voller kleiner Delikte, der mit drei Jahren von seiner Mutter getrennt wird und der seine Solo-Karriere so beginnt: Er antwortet in einem Song auf den Brief seiner Mutter, mit dem sie den Kontakt wieder aufnehmen wollte. Sie lebt in Afrika. Er in Europa. Möglicherweise hätten sie sich gar nicht mehr gefunden, wäre Baloji nicht im Internet auffindbar. Denn mit seiner Rapgruppe Starflam war er eine Zeit lang ein kleiner Star in seiner Heimat Belgien.

Geboren am 12. September 1978 im Kongo, als Sohn einer kongolesischen Mama und eines belgischen Papas, wächst Serge Tshiani a.k.a. Baloji an der belgischen Nordseeküste auf. Als Jugendlicher gerät er mehrmals mit der Polizei aneinander und verbringt einige Zeit in einem Heim für jugendliche Straftäter. Dort findet er Mitstreiter für seine Liebe, den Rap, wobei er von Anfang an auf die Lyrics setzt. Erst viel später entwickelt er sich zu einem Connoisseur der Soulmusik, der im Stile Donny Hathaways anrührende Balladen aus solchen Vororten, in denen wohl keiner freiwillig wohnt, orchestral aufbereitet und in epischer Länge vorträgt.

Seine Erfahrungen mit der Polizei münden in der Einschätzung, Belgien sei ein Polizeistaat, ein "État policier", wie Baloji es unter dem Namen MC Balo auf einer CD von Starflam ausdrückt. Doch der Reihe nach: Baloji rappt während seiner Pubertät, in den frühen 90ern, unter dem Namen Balo, auch MC Balo, in der belgisch-wallonischen Formation H-Posse. Ihre Verses teilen die drei Mitglieder am Mic untereinander auf, so dass an jedem Song alle im Vordergrund beteiligt sind. Zu H-Posse gehört zudem ein DJ.

H-Posse entwickelt sich zu einer größeren Gruppe namens Malfrats Linguistiques, zu Deutsch "Sprachverbrecher". Nach Zu- und Abgängen zählt die Crew schließlich fünf Rapper, einen DJ und einen Bassisten. Den Namen Malfrats drehen sie zu Starflam um. Unter dieser Bezeichnung geben die sieben Jungs mehrere Alben über den großen Vertrieb Rough Trade sowie die Majors Warner und EMI heraus, bis Balo die Gruppe verlässt.

Sein Weggang zieht sofort die Auflösung von Starflam nach sich. Vier Studio-Longplayer und zwei Live-Alben entstehen bis dahin zwischen 1998 und 2005. Auf allen Aufnahmen rappen Starflam auf Französisch.

Bereits das erste gemeinsame Album verweist formal auf Balojis spätere Neigung, lange Tracks zu gestalten. Zwei Sechsminüter und ein über zehn Minuten langer Tune liefern viel Content. Der längste Song heißt "Monde Confus", also "Verrückte Welt" und entfaltet eine sozialkritische Analyse, die viele Faktoren der damals immer deutlicher spürbar werdenden Globalisierung verbindet.

Starflam geht es, so fühlt man rasch, um die Botschaft und die Energie, die von ihren Statements ausgeht - weit mehr denn um Lifestyle und Fame. Auf dem selbstbetitelten Album gastiert einer von Frankreichs damals bekanntesten Rappern, Assassin. Diese Kollabo unterstreicht die grenzüberschreitende Bedeutung der Platte in der Frankophonie. Aus dem belgischen Liedgut covern Baloji & Starflam "Ce Plat Pays", zu Deutsch "Dieses flache Land", einen Chanson von Jacques Brel, und machen daraus Hip Hop.

Auf "Live & Direct" erscheint der Song anno 2000 in einer Konzertversion. Ebenso enthält die Platte eine stark gestraffte Version von "Monde Confus" sowie - jetzt ohne Assassin - "Mic Smokin'" und die Single "Bled Runner". In einer Zeit, als Vinyl außer unter eingefleischten DJs bei weitem nicht so verehrt wird wie später in den 2010er Jahren, setzen ihm Starflam mit "33 RPM" ein Denkmal. Symbolisch hat die Scheibe 33 Minuten Spieldauer.

Es folgt 2001 das Studioalbum "Survivant" mit 16 Songs und einem Zwischen-Skit, eröffnet vom explosiven "Ultrastarflam". Aus der CD/Doppel-LP koppelt Capitol/EMI die vier Maxi-Singles "La Sonora", "De Cause A Effet" ("Von der Ursache zur Wirkung"), "Sous Pression" ("Unter Druck") und "Amnesie Internationale" aus. Die Plattenfirma schielt auf den amerikanischen Markt und versucht die Band über das französischsprachige Kanada, auch in den USA unterzubringen. Ein paar Konzerte in Kanada finden statt.

Militante, auf den Punkt formulierte Tracks wie "Combattants" ("Kämpfer") oder die Raggamuffin-Rap-Fusion "Choisis Ton Camp" ("Wähle dein Lager") signalisieren Angriffslust und den Willen zur Einmischung. "Amnesie Internationale" traktiert den Nord-Süd-Konflikt zwischen Wirtschaftsmächten und Entwicklungsländern und weist den IWF- und Weltbank-Entscheidern eine massive Mitschuld am desolaten Zustand mancher südlicher Länder zu.

Lokale Probleme europäischer Großstädte mit Bürokratie, mit Empörung über illegale Einwanderung und mit prekären Jobs behandeln Starflam auch. "L'Amour Suze" skizziert eine verflossene Beziehung. Im Verteilen der Rap-Stimmen gilt konsequent das Posse Cut-Style-Prinzip, also einer nach dem anderen und immer alle. Somit macht die Palette an fünf Stimmen die Tracks abwechslungsreich - ebenso wechseln die Instrumentierungen.

Balo a.k.a Baloji nutzt am Mikrofon auffallend mehr Zeit als die anderen vier Herren. Nach den Folgealben "Donne Moi De L'Amour" (auf der Deluxe-Version mit Roldán von den kubanischen Orishas unter den Featured Guests) und "Faites Du Bruit - Concert A L'Ancienne Belgique" geht der Truppe die Luft für gemeinsame Projekte aus, es kommt zu Streitigkeiten. Balo lässt all seine musikalischen Ambitionen platzen. Nicht nur von Starflam, sondern aus der Musik insgesamt zieht er sich zurück.

Bis er einen Brief von seiner Mutter erhält. Durch sie wird ihm sein familiärer Bezug zum Kongo wieder viel klarer. Der Brief inspiriert ihn zu neuen Songs. Das autobiographisch gespeiste "Tout Ceci Ne Vous Rendra Pas Le Congo" erscheint 2007. Es ist die Antwort auf Mamas Schreiben. Für diese Single entscheidet sich Balo, jetzt unter dem Namen Baloji, drei Versionen herauszubringen: eine Single-Fassung, eine mittlere Album Edit und eine lange Full Version. Im Extended-Format rappt er zu Elementen aus Synthie-Experimentalmusik à la OMD, Rap-Metal-Crossover, französischem Hip Hop-Style und rhythmischen Afrofunk-Strukturen.

Seine bohrenden Worte stiefeln durch ein breites Themenfeld: Revolution, Krisen, NGOs, Rassismus, Determination, Terrorismus, Kolonialisierung, falsche politische Versprechen, Gold und Mineralien, Afrika und das Land seiner Mutter, der Kongo. All diese Stichworte führt er in seiner engagierten Speech-Gesangs-Mixtur zusammen. "All dies wird euch der Kongo nie zurückgeben", lautet der Slogan über dem mehrteiligen, kunstvollen Stück, das mit Geräuschen eines abhebenden Flugzeugs endet. Die Single-Version hört sich als purer Rap-Tune ganz anders, straight und wortlastig an.

Auch "De L'Autre Côté De La Mère" ("Auf der anderen Seite der Mutter", Sprachspiel mit "de la mer", "des Meeres") knüpft an Balojis Mutter an. Der Song weist Richtung Jazz-Rap. Die dritte Single "Coup De Gaz" groovt als lockerer Disco-Soul und befasst sich mit bi-nationalen Partnerschaften. Baloji passt in kein Schubfach.

Das zugehörige Album "Hotel Impala" erzählt entlang ruhiger und explosiverer Momente die Lebensgeschichte Balojis auf einer Doppel-Vinyl von 78 Minuten. Es zählt zu den spannendsten Alben, die in den 2000er Jahren im French-Rap (le hip-hop français) erscheinen. Voller Zwischentöne jagt ein Höhepunkt den nächsten und durchwandert die Urban-Musikgeschichte von Smokey Robinson, Marvin Gaye, über die Temptations, De La Soul, Beastie Boys bis MC Solaar.

Zugleich findet "Hotel Impala" interessante neue Ausdrucksformen für Funk ("Repris De Justesse") und bindet Afrobeat ("Nakuenda"), Chanson-Folk ("Où En Sommes-Nous") und Hörspiel-Collage, Rhythmuswechsel und Stilbrüche ein ("Liège Bruxelles Grand").

Die Platte wird aufwändig produziert. Die Titel haben jeweils eigenständige Arrangements, wobei man besonders ins "Intro" mit Klavier, Posaune, Trompete, Saxophon und Cello einige Mühe investiert. Das Album erscheint beim belgischen Ableger von Parlophone, einem Sublabel von MC Balos und Starflams früherem Label Warner.

Die Ortsbezüge auf den Kongo werden mehr, als Baloji den Nachfolger "Kinshasa Succursale" aufnimmt. Im Gegensatz zum ersten Solo-Album, das ohne Gäste entstand, sammelt Baloji viele Mitstreiter ein. Konono No 1 zum Beispiel. Diese Combo verbindet traditionelle Zombo-Musik mit elektronischer Musik der Gegenwart zu einem schrägen Vintage-Sound. Hierfür nutzen sie auch auf Balojis Tune "Karibu Ya Bintou" ihr aus Up-Cycling entstandenes Equipment und Instrumente des afrikanischen Südens.

Der belgische Rapper vernetzt sich also ein erstes Mal mit der Congotronics-Szene Kinshasas, aus der heraus Staff Benda Bilili gerade große Aufmerksamkeit auslösen. Auch der Lo-Fi-P-Funker Amp Fiddler macht bei Baloji mit, so wie zahlreiche in Europa unbekannte Leute aus dem Kongo. Dieses zweite Solo-Album verlegt das belgische, aber auf afrikanische Sounds spezialisierte Label Crammed Discs.

In der zweiten Runde von Damon Albarns Africa Express tourt Baloji zusammen mit dem Gorillaz-Musiker, vielen Acts aus Mali, Senegal und der internationalen Popmusik, einem Who's Who von Charli XCX bis zu den von Albarn kuratierten Jupiter & Okwess. Unter großer englischer Medienöffentlichkeit lässt sich der Musikertross von einer großen alten Diesellok durchs UK ziehen. Weder auf dem vorausgehenden Albarn-Album "Kinshasa One Two" noch auf der nachfolgenden "Africa Express presents ... Maison Des Jeunes" macht Baloji aber mit.

Für einige Zeit wird es deutlich ruhiger um den Musiker, der sich nur mehr für eine digitale EP zurückmeldet. Dass Baloji unter 'Album' wohl gerne Doppel- und Konzeptalbum versteht, zeigt sich wieder 2018 auf dem dritten Longplayer "137 Avenue Kaniama". Der ganzheitliche Ansatz umfasst nun auch ein aufwändiges Fotobuch, das mit einer CD-Ausgabe ausgeliefert wird. Der Rapper lebt seine Neigung zu visuellen Ausdrucksformen wie Fotografie, Film und afrikanischer Mode mehr und mehr aus.

Musikalisch entzweit der Release die Kritiker in Lager. Überhaupt, es gibt haufenweise Kritiken und Resonanz. Während viele sich damit abmühen, Track für Track einzeln zu analysieren, erfreuen sich andere an der Innovationskraft. Während die einen sich an den zwei, drei Club-tauglichen Songs stören (diese seien anbiedernd), sehen andere die satirischen und doppeldeutigen Anspielungen auf das Leben in den Städten der DRC (Demokratischen Republik Congo). Die erfolglose Suche nach "Amalgamierungen" wittert der Autor vom 'Musikexpress'. Von "incredible" und "good vibes" spricht das 'Griot Mag', während die 'Intro' beklagt, dass "gefühlte zwanzig afrikanisch interpretierte Musik-Genres durch das Album gejagt werden" und sich der 'Musikblog' das Ganze "ausgegorener" wünscht.

Das komplexe Werk bedient sich unzähliger Musikstile: darunter somalischer Musik der 80er, westafrikanischer Stile der 70er und einzelner Rhythmus-Elemente der simbabwischen Mbira-Musik. Es behandelt ein Sammelsurium aus Themen wie Völkermord und den Kampf der Pygmäen-Bevölkerungsgruppen im Regenwald um Lebensraum ("Tanganyika"). Immer wieder geht es ums Spannungsfeld zwischen virtueller Realität, Computern, Bildschirmen, Handynetz, Browser-Cookies einerseits - und andererseits Stromausfällen in Kongos Städten.

Als beliebtester Song in Rezensionen erweist sich "Peau De Chagrin / Bleu De Nuit". Zu diesem Song sieht sich der Rapper durch Lenny Kravitz "I Belong To You" inspiriert. Der Track "L'Hiver Indien" schafft es in den Soundtrack des "FIFA 18"-Computerspiels. Einzelne Konzerte ergeben sich nun auch in Deutschland, in Heidelberg, Berlin, und open air beim renommierten und traditionsreichen Nürnberger Bardentreffen.

Parallel reicht Baloji seinen Kurzfilm "Zombies" bei europäischen Filmfestivals ein. Das anti-utopische Werk behandelt die Allgegenwart des Digitalen im heutigen Alltag und stellt sich das Smartphone als Körperteil und verlängerte Hand vor. Schauplatz des Films ist Kinshasa. Die Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen prämieren den "Musik-Thriller über die digitale Zombifizierung" und den "Soundtrack von Balojis futuristischen Afro-Beats" mit dem ersten Preis von 4.000 Euro.

In der Wissenschaft fällt Baloji, dessen Name auf Swahili "Mann der Wissenschaft" bedeutet, auch auf. Der belgische Sozialforscher Gert Huskens und der Historiker Idesbald Goddeeris weisen im 2020 erscheinenden Sammelband "Lumumba In The Arts" akribisch nach, dass Baloji sich ausführlich mit der Geschichte seines Landes beschäftigt haben dürfte: Mindestens sechs Textstellen verweisen über die Jahre auf die ikonische Gestalt Patrice Lumumbas, des ermordeten Unabhängigkeitskämpfers und ersten Ministerpräsidenten des Kongo.

Für 2020 plant Baloji die Veröffentlichung des abendfüllenden Spielfilms "Augure" und des Soundtracks; dieser soll sein viertes Album werden. Hierfür wechselt Baloji vom englischen Indie-Rock-Label Bella Union zur Universal-Tochter Top Notch.

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