laut.de-Kritik

Der Archaeopteryx zwischen Punk und Pop.

Review von

Einer der vielen Vorzüge daran, eine mehrere Jahre ältere Schwester zu haben: Man erspart sich, sofern besagte Schwester halbwegs geschmackssicher unterwegs ist, die schlimmsten Peinlichkeiten, was frühe musikalische Vorlieben betrifft. Während die Altersgenossen im Kindergarten noch hingebungsvoll den "Rucki-Zucki" tanzten, schepperten zu Hause längst "Hells Bells". Die Grundschulfreundinnen himmelten diverse föngewellte Schlagersänger an. "Nicht cool", dozierte meine seinerzeit solide an-ge-punkte Schwester, und schleppte frühzeitig die passende Alternative an: eine weißblond-stachelhaarige, in (wenig) Leder und (reichlich) Nieten gewickelte, drogen- und sexsüchtige englische Rampensau namens Billy Idol. Ich war sieben oder acht - und schwer verknallt. So, werte Gemeinde, werden offenbar Hip Hop-Heads gemacht.

Die Schwäche für Gitarrenmusik ging vorüber, die für Billy Idol ist geblieben. Dass an dieser Zuneigung selbst ein Totalausfall wie "Cyberpunk" nicht kratzen konnte, liegt größtenteils daran, wie tief sich meinem Noch-nicht-einmal-Teenie-Ich die Songs ins (in jeder Hinsicht) jungfräuliche Hirn gebrannt haben, als "Rebel Yell" meine musikalische Welt erschütterte. Die hatte bis dahin meine rotsockige Mutter (Gut gemacht, Mama!) mit Arbeiterliedern imprägniert, mit dem aufrührerischen Quartett Wader, Wecker, Danzer, Degenhardt. Das Kämpferische war mir also durchaus vertraut. Der zügellose Furor, den Billy Idol mitbrachte, war neu. Das ist also Punk, aha.

Rückblickend erscheint zunehmend merkwürdiger, mit welcher komplett unwidersprochenen Selbstverständlichkeit Billy Idol überall als "Punk" durchgeht. Es muss wohl an der Attitüde liegen, seine Musik kanns nicht sein. Der Rolling Stone fand, als er einst "Rebel Yell" sezierte, "zu gleichen Teilen Hardrock, Glamrock und Punk", also bestenfalls ein Drittel. Wobei sich der tatsächliche Punk-Anteil noch einmal dramatisch reduziert: Die Kollegen haben irgendwie vergessen, den Rock'n'Roll mit einzurechnen. Wer Billy Idol jemals singen hörte, kommt eigentlich nicht umhin, aus ihm Roy Orbison sprechen zu hören, den großen Crooner Frank Sinatra, und Elvis. Vor allem den!

Aber, nein, Billy Idol war Punk, ist Punk, und er wird immer Punk sein, auch wenn Johnny Thunders schon lange nicht mehr lebt und die Toten Hosen längst in Bierzelt-Schlager-Gefilde hinübergeschunkelt sind. Als Frontmann von Generation X und Mit-Betreiber einer Londoner Punk-Kaschemme namens The Roxy reichen Billy Idols Wurzeln ja auch wirklich tief in die räudige Subkultur. Trotzdem: Musikalisch geht "Rebel Yell" eher als das perfekte Radioprogramm seiner Zeit durch, Jingle: "Das Beste aus den Sechziger, Siebziger und Achtziger Jahren".

Aus den Sechzigern hat Billy Idol den Rock'n'Roll mitgebracht, aus den Siebzigern die theatralische Rock-Kombination "E-Gitarre vor wuchtigen Drums" und den Groove von Disco. Die eben frisch angebrochene Dekade steuert noch ordentlich New Wave und Synthies bei, außerdem natürlich die Optik. Einmal kurz ins Video zu "Flesh For Fantasy" reingelinst, und du weißt sofort Bescheid, wo der Frosch des Achtziger-Revivals die Locken gefunden hat: In einer Kulisse wie vom Schultheaterstück legen spärlich bekleidete Mädels Formationstänze hin. Neonbeleuchtung, Dreiecke ... alles bereits dagewesen, und der Bass war damals auch schon fett.

Apropos Video: Natürlich trägt auch das Verbreitungsmedium seinen Teil zum Erfolg von "Rebel Yell" bei. Der Weg zu Doppelplatin und Top-Ten-Platzierungen unter anderem in den USA, Großbritannien, Deutschland, der Schweiz, Italien und Neuseeland führte durch die Röhre, in die seinerzeit alle noch guckten: Internet war noch lange kein Thema, dafür MTV der brandheiße Scheiß und für die wiederum ein plakativer Typ mit seinen bildgewaltigen Clips das gefundene Fressen.

Beim Plattenlabel Chrysalis erkennen sie die Zeichen der Zeit und graben in Vorbereitung auf Billy Idols zweites Album eine seiner älteren Nummern wieder aus: "Dancing With Myself", eigentlich schon zwei Jahre zuvor auf dem Gen X-Album "Kiss Me Deadly" veröffentlicht, bekommt ein Video spendiert - und was für eins. Aus Zeichentrick, Horrorfilmen, Pantomine und Breakdance, Klamauk und Zombiehorden flickte Tobe Hooper (ja, der Regisseur von "Texas Chain Saw Massacre" und "Poltergeist") einen frankensteinschen Bastard von einem Clip zusammen, wie die Welt bis dahin noch keinen gesehen hatte.

Man hatte ja ohnehin kaum etwas, das Musikvideo-Game war, wie gesagt, brandneu, die Konkurrenz noch übersichtlich, und "Dancing With Myself" war verrückt und lustig und gruselig. Vor allem aber war es da und lief in den sechs Monaten vor der Veröffentlichung von "Rebel Yell" nahezu in Dauerschleife. Als Billy Idols zweites Album im November erschien, stand das Publikum bereit, weichgekocht und empfänglich.

In vielerlei Hinsicht handelte es sich bei "Rebel Yell" um eine Fortsetzung des selbstbetitelten Debüts, es wollte und sollte offenbar gar nichts anderes sein. Die Nummerierung der Plattenseiten mit "3" und "4" spricht diesbezüglich eine deutliche Sprache. Billy Idol kooperierte erneut mit den gleichen Mitstreitern: Mit Ausnahme von "Catch My Fall", das allein auf seine Kappe geht, schrieb er die Songs zusammen mit seinem Gitarristen Steve Stevens. Die Produktion oblag wieder Keith Forsey.

"Rebel Yell" klingt, wie es klingt, weil alle Beteiligten die sind, die sie sind. Das gilt zwar im Grunde immer und überall, lässt sich in diesem Fall aber mühelos in seine Bestandteile aufdröseln: In Steve Stevens fand Billy Idol nicht nur einen fähigen Gitarristen, sondern einen in mehrfacher Hinsicht würdigen Konterpart. Stevens verdiente seine Sporen zwar erst später als Sessionmusiker, arbeitete unter anderem für Ric Ocasek, Robert Palmer und Michael Jackson, kannte aber vorher schon Gott und die Welt. Später wurde er außerdem für sein Gitarrenspiel im Titeltrack von "Top Gun" mit einem Grammy für die "Best Pop Instrumental Performance" dekoriert. Er und Idol oszillierten auf einer Wellenlänge, was dem gemeinsamen Songwriting entgegenkam. Zudem konnte Stevens mit seinem New Romantic-Chic, der explodierten Frisur und seiner Hemmungslosigkeit dem Bühnenviech Idol auch live etwas entgegenstellen - und tat das auch.

Keith Forsey wiederum bringt eine bewegte Vergangenheit als Drummer in Udo Lindenbergs Panik Orchester und Percussionist bei den Krautrock-Legenden Amon Düül II mit. Den Groove lernte er bei Maestro Giorgio Moroder, für den er lange Schlagzeug spielte. Unter anderem auf Donna Summers Erfolgs-Platten ertrommelte er sich seinen Status als Disco-Pionier.

Billy Idol, der neben seiner Punk-Vergangenheit seine ungebrochene Liebe zu Elvis und Tex Ritter mitbrachte, richtete sich mit Stevens und Forsey in den geschichtsträchtigen Electric Lady Studios in New York ein. Die drei warfen zusammen, was sie zu bieten hatten, marinierten das Ganze ausgiebig in Sex und Drugs und gebaren ein Rock'n'Roll-Baby, für das passenderweise auch wieder eine Droge Pate stand: Den Albumtitel "Rebel Yell" klaute sich Idol vom Etikett einer Bourbon-Flasche, aus der er die Rolling Stones bei einer Party trinken sah.

Einen Schlagzeuger? Braucht zunächst keiner. Idol und Stevens behelfen sich mit einer Drum Machine. Erst als alles schon steht, heuern sie für etliche Nummern Thommy Price an, der gerade vor Ort war: Er nahm im Nachbarstudio mit der Band Scandal auf. Price trommelte als erstes Stück den Titeltrack ein, der vielleicht bekannteste Song der Platte, dennoch aber die erfolgloseste der vier Singleauskopplungen. "Rebel Yell", der Song, erreichte erst als Re-Release 1985 eine nennenswerte Chartsplatzierung.

Das Album "Rebel Yell" erfüllt und übertrifft dagegen alle kommerziellen Erwartungen. Nach einiger Rangelei zwischen Billy Idol und seiner Plattenfirma um die kreative Kontrolle - es kursiert die Legende, Idol habe die Masterbänder geklaut, um Chrysalis damit zu erpressen, und sei mit der Nummer durchgekommen, obwohl er versehentlich die falschen Aufnahmen mitgehen ließ - laufen die Dinge doch irgendwann wie geschmiert. Die Videos, insbesondere die zu "Flesh For Fantasy" und "Eyes Without A Face", lösen "Dancing With Myself" in der MTV-Rotation nahtlos ab.

Letzteres zeigt exemplarisch vieles, das "Rebel Yell" charakterisiert: Das Video spielt mit Grusel und nackter Haut und fährt die - zu der Zeit - aktuellsten Specialeffects auf. Die Nummer, eigentlich eine getragene Ballade, flicht außerdem Rock- und New Wave-Elemente ein. Die Background-Vocals steuert Perri Lister bei, Billy Idols langjährige Freundin: "Les yeux sans visage", singt sie - so heißt der alte französische Horrorfilm von Georges Franju, der die Inspiration lieferte, und Billy Idol hat einen Top Ten-Hit, den später Kollegen von Paul Anka über die BossHoss bis hin zu Scooter rauf- und runtercovern.

Natürlich ist all das ein Höllenritt auf Alkohol, Kokain und Heroin, und Billy Idol kennt die Abgründe wohl: "I'm all out of hope / One more bad break could bring a fall." Dessen ungeachtet rast er seinen "Blue Highway" entlang, sehenden Auges gegen die Wand, die er (wie das gehen konnte, weiß niemand so genau, der sich mit seiner Biografie befasst) trotzdem auf wundersame Weise bis heute verfehlt hat.

"Rebel Yell" erfährt 1999 eine um Bonustracks, Sessionaufnahmen und Demoversionen erweiterte Neuauflage. Billy Idol hat da neben seinem Zenit aber auch seinen Tiefpunkt bereits hinter sich. Das Nachfolgealbum "Whiplash Smile" (mit dem Plattenseiten "5" und "6" und dem weichgespülten Hit "Sweet Sixteen") erntet gemischte Kritiken. Im Vergleich zu "Cyberpunk", das 1993 komplett durchfällt, kommt das Album aber immer noch sehr gut weg.

Die Schauspielkarriere, die Billy Idol zwischenzeitlich anstrebte - er hatte die Zusage für eine größere Rolle in Oliver Stones Band-Biopic "The Doors" - zerdepperte er schon vorher bei einem schweren Motorradunfall zusammen mit Bein und Rippen auf dem Asphalt. Die Zusammenarbeit mit Steve Stevens war da ebenfalls bereits in die Brüche gegangen. Der Gitarrist kehrte erst für "Devil's Playground" zu Idol zurück, auf dem das Duo 2005 ein äußerst spielfreudiges Comeback zelebrierte.

Irgendjemand scheint sein flehentliches "Catch My Fall" also doch gehört zu haben, in dem Billy Idol schon viel früher den inneren Elvis von der Leine ließ. Drunter pluckert ein cooler Bass, und - hey! Wir hatten die Achtziger! - ein Saxofonsolo passt auch noch rein. "(Do Not) Stand In The Shadows" ist eine Uptempo-Dance-Nummer, "Crank Call" nichts als Hardrock. Das ist also Punk?

Nö. Eigentlich nicht. In seiner Gesamtheit ist "Rebel Yell" wohl eher so etwas wie der Archaeopteryx, eine evolutionäre Zwischenstufe, das fehlende Bindeglied: die Album gewordene Ver-Pop-pung von Punkrock. Darüber nicht wie der billige Jakob zu wirken, der im Bauchladen seine Subkultur verramscht: vielleicht Billy Idols bewundernswerteste Leistung.

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. Rebel Yell
  2. 2. Daytime Drama
  3. 3. Eyes Without A Face
  4. 4. Blue Highway
  5. 5. Flesh For Fantasy
  6. 6. Catch My Fall
  7. 7. Crank Call
  8. 8. (Do Not) Stand In The Shadows
  9. 9. The Dead Next Door

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10 Kommentare mit 26 Antworten

  • Vor 4 Jahren

    Lustig, daß Rebel Yell in der Retrospektive so gut wegkommt. Die Kritiker waren seinerzeit gar nicht gut auf Billy Idol zu sprechen. Ihm wurde Kommerzausverkauf vorgeworfen und lediglich ein untalentierter Möchtegern Star zu sein.

    Als Tatsache bleibt festzustellen, daß einige Songs von Rebel Yell erstaunlich gut gealtert sind.

    • Vor 4 Jahren

      In der Tat erstaunlich gut gealtert. Als Teenie habe ich ihn damals aber auch als Poser wahrgenommen. :)

      An dieser Stelle auch noch ein Hinweis auf sein, m.E. empfehlenswertes - Frühwerk von / mit Generation X.

    • Vor 4 Jahren

      Dieser Kommentar wurde vor 4 Jahren durch den Autor entfernt.

    • Vor 4 Jahren

      Gut gealtert? Da liegt schon viel 80er-Patina auf dem Album. Die Musik ist definitiv nicht schlecht, aber eben ein Produkt der Zeit und es hat Gründe, weshalb Glam nie ein Revival feierte. Man muss heute schon ein echtes Faible für solche Musik haben, aber die 124 Millionen (!) Klicks von "Eyes Without a Face" auf YouTube sprechen wohl für sich.

    • Vor 4 Jahren

      Ich glaube, dass die Faszination davon herrührt, dass Billy Idol in den 80ern so eine "Larger than life"-Persönlichkeit war. Als sich der Massengeschmack änderte und er älter (und süchtiger) wurde, musste es enden. Er hätte maximal stumpf bei seinem Ding bleiben und in der Alice-Cooper-Ecke landen können. insofern muss man ihm durchaus anrechnen, dass er Anfang der 90er - wahrscheinlich auch aus Verzweiflung - etwas Neues probiert hat. Für das "Cyberpunk"-Album gehört er sich aber weiterhin geschlagen, v.a. für dieses unfassbare Cover von "Heroin".

    • Vor 4 Jahren

      Ohrenschmalz eine gewisse Patina schadet doch nix! Wenn es nicht gerade das Silberbesteck von Oma aus dem letzten Jahrhundert ist, dann so und so nicht. Die Patina kann man auch nur wahrnehmen wenn man die Zeit erlebt hat und da bin ich auch bei schön gealtert der Billy.

      Mein Idol war er damals wahrlich nicht, viel zu glatt und Kommerzmucke die vor Mitternacht in der Hausdisko um die Ecke lief. Möchtegernpunk, Onehitwonder damals seine Kosenamen. Mit White Weeding vom Debüt erstmals auf dem Schirm gehabt, auch fein gealtert. Würde das heute "neu" erscheinen mit Sicherheit ein Hit.

      Erst 2002 mit der VH1 Storytellers stand er wieder mitten in meinen Gehörgängen. Mit der 2005 Devil's Playground wollte er da nicht mehr raus und hat seinen Ehrenplatz auch verdient. Gibt nicht viele aus den Achtzigern, die sich ins neue Jahrtausend so rüber gerettet haben.

    • Vor 4 Jahren

      Das mit "Larger than life"-Persönlichkeit mag stimmen, jedenfalls profitierte er stark vom jungen MTV. Während alle anderen Softies waren, konnte er sich als Bad Boy vermarkten. Wirklich Profil hatte er aber nicht, vielleicht wurde er deshalb auch früh von Guns n Roses, Bon Jovi und den Vokuhilabands verdrängt.
      Als "Kunstfigur" im frühen Musikfernsehen hat der Weirdo-Pirat Adam Ant sehr viel besser funktioniert, seine Musik ist auch zeitlos.

    • Vor 4 Jahren

      Adam Ant bzw. Adam & The Ants ist/sind aber einfach auch 10.000-mal cooler als dieser Pseudo-Punk ...

      ANT MUSIC!

    • Vor 4 Jahren

      Dieser Kommentar wurde vor 4 Jahren durch den Autor entfernt.

    • Vor 4 Jahren

      die Songs gingen einfach ins Ohr, vielleicht war das ja der Grund?!

  • Vor 4 Jahren

    Wunderbarer Text. Mit Idol konnte ich nie etwas anfangen, ich bin aber auch zu spät geboren, sodass er für mich immer nur der komische Typ aus den 80ern war. "Rebel yell" ist aber z.B. ein sehr feiner Song. Simpel, stumpf, effektiv.

  • Vor 4 Jahren

    Eine wirklich schön geschriebene Kritik Frau Fromm. Mir gefällt, wie sie persönliche Erlebnisse mit einfließen lassen und diese Zeit etwas greifbarer machen.