laut.de-Kritik

Weit draußen.

Review von

Mein kleiner Bruder und ich haben oft über Minecraft gebondet. Natürlich haben wir. Immerhin sind wir beide irgendwann um die Jahrtausendwende herum geboren. Die allermeisten in unserem Alter haben auf die eine oder andere Art Erfahrungen mit diesem Spiel gesammelt. Das Sandbox-Spiel in der Würfelwelt ist für immer in unsere kollektive Vorstellungskraft eingebrannt - und viele Hinterköpfe halten vermutlich einen besonderen nostalgischen Platz für dieses Spielerlebnis warm.

Trotzdem habe ich lange gebraucht, um zu verstehen, dass mein Bruder und ich eigentlich völlig verschiedene Spiele gespielt haben. Sein Minecraft lief quasi vollständig über den Online-Modus. All seine Erinnerungen dürften vollgestellt sein mit YouTube-Compilations brüllender Online-Persönlichkeiten. Die Geräusche, die er mit dem Spiel verbindet, dürften Teamspeak-Server voller schreiender Kinder sein, während man sich in vorgebauten Servern oder auf irgendwelchen Skyblocks mit Schaufeln gegenseitig den Garaus macht.

Meine Minecraft-Erfahrung dagegen ist eine ziemlich antisoziale. Vielleicht hatte mein Bruder einfach mehr Freunde als ich, aber meine Minecraft-Hochphase waren ein paar Sommer meiner Teenager-Zeit, in denen ich Städte und Türme in den Singleplayer-Welten hochgezogen habe. Und rückblickend kam mir Minecraft auf diese Art wie ein melancholisches Spiel vor. Du wirst in einer kahlen, feindseligen Welt ausgesetzt, die der echten Welt ähnelt, aber so stilisiert, dass sie sich immer ein wenig fremd anfühlt. Und ja, es gibt die Storyline, den Ender-Drachen zu besiegen, aber weiß man davon nicht, wird man quasi ohne Auftrag und ohne Ziel in dieser Welt ausgesetzt. Alles, das es zu tun gibt, ist zu überleben und seine Zeit zu verschwenden, indem man Strukturen und Gebäude und Städte baut, deren einziges Leben man per Definition nur selbst sein kann. Sie verwaisen in der Sekunde, in der man ihnen den Rücken zuwendet.

Meine Spielerfahrung mit Minecraft wäre im Leben nie so intensiv gewesen, wenn ich sie nicht über Jahre in diesem unglaublichen Soundtrack mariniert hätte. "Minecraft: Volume Alpha" vom Chemnitzer Electro-Produzenten C418 ist eins der schönsten Ambient-Alben aller Zeiten und setzt meisterhaft die atmosphärischen Eckpfeiler einer der einprägsamsten Spielerfahrungen überhaupt.

Es ist jetzt natürlich schwer abzugrenzen, was an diesem Album Musik und was Erinnerung ist. Nicht nur bei mir hat sich "Volume Alpha" über die Jahre bis zum Anschlag mit Nostalgie vollgesogen. Der Sorte Nostalgie, die einen Menschen um seine Kritikfähigkeit bringen könnte. Aber selbst, wenn ich dieses Spiel keinen Tag meines Lebens angefasst hätte, wäre ich sicher, dass dieser geisterhafte, ungreifbare Soundtrack sich für mich nostalgisch und wehmütig angefühlt hätte. Er nimmt die besten Ideen seines Genres, das Whiteout von Alben wie Tim Heckers "Ravedeath 1972" bis hin zur Idee, mit Ambient-Musik eine ganze Landschaft zu zeichnen, die Brian Eno und Harold Budd auf "Ambient 4: On Land" vorgeführt haben.

Im Kern dieses Albums stehen Leitmotive auf Klavier, Synthesizer und Spieluhr. Man könnte fast den Eindruck bekommen, die Musik möchte selbst das Gefühl einer verwischenden Erinnerung nachspüren, denn es kommt immer wieder so vor, als würden einzelne musikalische Ideen und Motive an verschiedenen Stellen des Albums auftauchen. "Subwoofer Lullaby" über "Living Mice" bis hin zu "Mice On Venus": Da ist eine Soundkulisse, die sich durchzieht.

Spannend ist aber, dass "Volume Alpha" wie jedes gutes Ambient-Release die Leitmotive nicht in den alleinigen Vordergrund stellt. Da sind Spuren von Field Recording und Drone unter den fragilen Melodien, die mal mehr, mal weniger in das Gespielte überlappen. Störgeräusche und Fade-Outs durchbrechen die Instrumente, als würde man selbst nur eine schwache Übertragung von wo-auch-immer hören. Besonders beeindruckend ist auch die Nutzung von negativem Raum - viele Tracks schweigen für Dutzende Sekunden, bevor sie langsam wieder einfaden. Es ist ein bisschen so, als wolle das Album die Spielerfahrung emulieren, in der sich die subtilen Sounds erst im Moment der maximalen Immersion unter das Erlebte mischen. Denn während man Minecraft spielt, kann es oft ein oder zwei Minuten dauern, bis man überhaupt realisiert, dass sich im Rausch des Erkundens ein Soundtrack unter das Erlebte gelegt hat. Und der Soundtrack unterfüttert das Gefühl von Ferne und Fremdheit so virtuos, dass die wehmütig-nostalgischen Sounds den Spieler noch kleiner und noch unwichtiger in der endlosen, virtuellen Welt wirken lassen.

Dabei wäre es so einfach gewesen, einen mittelmäßigen Soundtrack für dieses Spiel zu machen. Soundtracker kennen ja die Knöpfe und die Kurzschlüsse, mit denen man auf schnellstem Weg ein Gefühl evozieren kann. Es gibt tausend Musikstücke für Film und Gaming, in denen Abenteuer, Gefahr oder Angst mit den selben, kitschigen Shortcuts erzählt und signalisiert wird. Es ist entsprechend spannend und sehr mutig, wie unkitschig dieser Soundtrack geraten ist. "Volume Alpha" schert sich einen Dreck darum, stereotype, vorgefertigte Erlebnis-Boxen zu ticken. Als Album bleibt es die ganze Zeit formlos, ungreifbar und alien - und gerade deswegen kann dieser Soundtrack ein so einzigartiges, atmosphärisches Spielerlebnis in sich aufsaugen.

Und zuletzt sind da natürlich einfach ein paar Standout-Tracks, die mir persönlich für immer unter die Haut gehen werden. Manchmal macht Musik das ja mit einem, dass ein Sound ein Gefühl kitzelt, das man so überhaupt nicht eingrenzen kann, als würde vor dem inneren Auge gerade eine brandneue Farbe aufblitzen. Ich schreibe Worthülsen wie "Sehnsucht", "Nostalgie" oder "Melancholie" als bescheuerte Behelfs-Konstruktionen. In Wahrheit habe ich einfach keinen Begriff dafür, was ein Track wie "Sweden" in mir auslöst, mit seiner so trügerisch simplen Piano-Melodie. Oder der irgendwie milde stimmende Synthesizer-Horizont auf dem Titeltrack "Minecraft". Das fragende, wundernde "Living Mice".

All diese Tracks fühlen sich singulär an. Als wären sie weit draußen, als wüssten sie um die Distanz, die man zurückgelegt hat, als wüssten sie um das erdrückende, klaustrophobische Gefühl der Ferne. "Volume Alpha" ist ein magisches Album. Vielleicht mag es dem ein oder anderem seltsam vorkommen, so viel in ein dämliches Spiel hineinzuprojizieren. Aber wenn dieser Soundtrack der perfekte Begleiter für dieses einzigartige Spiel sein mag, ist er eben auch eines der evokativsten und vielschichtigsten Stücke Ambient-Musik, denen man in irgendeiner Form begegnen kann. Ich bin sicher, selbst wenn ihr Minecraft nie gespielt haben solltet, würde dieses Album auch für euch nur darauf warten, sich mit irgendeiner eigenwilligen, störrischen Erinnerung vollzusaugen.

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. Key
  2. 2. Door
  3. 3. Subwoofer Lullaby
  4. 4. Death
  5. 5. Living Mice
  6. 6. Moog City
  7. 7. Haggstrom
  8. 8. Minecraft
  9. 9. Oxygéne
  10. 10. Équinoxe
  11. 11. Mice On Venus
  12. 12. Dry Hands
  13. 13. Wet Hands
  14. 14. Clark
  15. 15. Chris
  16. 16. Thirteen
  17. 17. Excuse
  18. 18. Sweden
  19. 19. Cat
  20. 20. Dog
  21. 21. Danny
  22. 22. Beginning
  23. 23. Droopy Likes Ricochet
  24. 24. Droopy Likes Your Face

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