laut.de-Kritik
Hört man zwei Lines nicht hin, verpasst man vier Sprachbilder.
Review von Yannik GölzEin 19-Song-Album hatte Earl Sweatshirt verworfen, weil es ihm "zu optimistisch" klang. Der Mann, der vor ein paar Jahren endgültig seinen Odd Future-Wurzeln den Rücken kehrte, um sich mit "Some Rap Songs" zur Speerspitze einer neuen lyrischen Untergrund-Bewegung aufzuschwingen, hält weiterhin nicht viel von Frohsinn oder Transparenz. Die neuen 25 Minuten Musik namens "Sick!" behalten sich alle Kryptik und die skizzenhaften Songstrukturen bei. Aber im Gegensatz zum Vorgänger "Feet Of Clay" ist es mehr als ein Nachschlag, ein Übergangs-Album, das den Avantgarde-Raps wieder ganz unterschwellig den ein oder anderen Trap-Groove untermischt, während er seine neue Vaterschaft und den Lockdown verdaut.
Entsprechend passieren hier eine ganze Menge Sachen parallel. Der erste Eindruck könnte regelrecht ernüchtern: Der Opener "Old Friend" resümiert sich verändernde Freundschafts-Dynamiken auf einem klassischen Loop Alchemist-Goodness. Aber für Earls Verhältnisse klingt der Loop geradezu clean. Klar, die Drums fehlen weiterhin, aber die Soundkulisse fühlt sich weniger abstrakt und ungreifbar an als seine letzten beiden Tapes. Ähnlich das Armand Hammer-Feature "Tabula Rasa" - das Vocal-Sample klingt nett und stimmig, aber in einer Welt, in der wir nun ein halbes Dutzend Alchemist-Alben mit diversesten Rappen bekommen haben, fürchtet man: Ist Earl jetzt nicht mehr der Vorreiter, sondern nur ein Weiterer?
Aber man muss nur ein bisschen zuhören, um Momente zu finden, die so nicht auf einem Boldy James- oder Armand Hammer-Album vertreten wären: Die Lead-Single "2010" allein schickte einen überraschend elektronischen Klangteppich voraus. Natürlich, Earl bleibt Earl, da wird ein Zebra kein Elefant, aber dieses Album streckt musikalisch die Fühler aus und verbindet ihn gleichzeitig mit seiner Frühphase. Könnte man wirklich dafür bürgen, dass so etwas wie "Titanic" oder "Lobby (Int)" nicht auch auf "I Don't Like Shit" hätte landen können?
Nicht ganz. Denn schlussendlich rappt Earl inzwischen doch ziemlich anders. Zum einen definiert er diesen "Jede Line braucht eine Genius-Annotation"-Rapstil zur Zeit. In seinem schleppenden, müden Ton versteckt sich ein wacher, wortverspielter Kopf. Hört man nur zwei Lines nicht hin, verpasst man vier Sprachbilder. Anspielungen auf Alice im Wunderland, seine alten Rapfreunde oder den alles unterwandernden Graskonsum fallen am laufenden Band, Rap schafft sich seinen eigenen Slang im Redeschwall, eine ganz eigene Art und Weise, aus altem Wortmaterial neuen Klang abzuleiten. "The same dust can't stay: I gotta clean or I can't think / Resort to cantankerous means on the cash play, rat races / The cheese sit in the trap, waitin'", rappt er zum Beispiel auf "God Laughs". Gute Zeiten für jeden, der gerne vor dem Textblatt sitzt und jede Zeile dreimal liest.
Auch musikalisch verändert Earl sich in subtilen Kniffen. Überdeutlich wird auch das auf dem Titeltrack "Sick!", auf dem er seine Flows überraschend klaren Pattern zuordnet. Vergleiche werden zum Trapper Lucki wach, für den Earl erst letztes Jahr produzierte. Manchmal sorgt das dafür, dass man seine eigentlichen Lines nicht zum Kern durchdringen muss. Die Story liegt mehr in der Tonlage, in der Art, wie er spricht, als in den Geflechten, die er aufsagt. Überdeutlich wird das auf dem besten Song der Platte, dem Zelooperz-Feature "Visions". Produzent Black Noi$e bringt einen Quasi-Trap-inspirierten Bassgroove unter ein Sample wie ein Klartraum. Setzt hier Bass und Loop zusammen ein, transzendiert der Hörer in den Himmelssüden – und nach dem Zelooperz-Part schnaubt Earl hinterher; ausgebrannt, abgearbeitet, aber doch ein bisschen euphorisiert. Klingt hier vielleicht das verloren gegangene optimistische Album durch?
Nein, es wäre schon vermessen, "Sick!" allzu viel Optimismus zu unterstellen. Earls Dämonen haben keinen Urlaub genommen, aber doch schimmert eine neue Selbstsicherheit durch. Earl wirkt wieder mehr in Kontrolle, sein Zustand facettenreicher. Waren "Some Rap Songs" und "Feet Of Clay" noch Alben, die im Strom des Lebens untergingen und den Klang davon festhielten, haftet "Sick!" ein gewisses Drüberstehen an. Etwas neues blüht in Earl auf, etwas, das offen für neue Sounds und Texturen zu sein scheint, vielleicht angeregt vom Vatersein, vielleicht auch nicht. "Sick!" mag noch nicht der definitive Grundstein einer neuen Earl-Ära sein, aber ein notwendiger Schritt, um weiter der Kurve vorauszubleiben. Und solange die Songs und Lyrics an sich auf seinem Niveau bleiben, kann auch eine Sammlung an Songs im Wandel absolut zufriedenstellen. -
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